Lehrstuhl für Schulpädagogik
print


Navigationspfad


Inhaltsbereich

1. Warum ist eine diversitätsbewusste interkulturell-migrationsgesellschaftliche Schulentwicklung wichtig?

Lange wurde es abgestritten, doch seit Mitte der 2000er Jahre heißt es nun auch von politischer Seite in der Bundesrepublik: Deutschland ist ein Einwanderungsland (vgl. Foroutan & İkiz, 2016). Schon seit Jahrhunderten hat es Migranten und Migrantinnen in Deutschland gegeben, jedoch sind erst seit Ende des zweiten Weltkrieges mehr Menschen ein- als ausgewandert (vgl. Mediendienst Integration, 2017). Heute stellen Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund laut statistischem Bundesamt (2017) in der Gruppe der unter 15-Jährigen mehr als ein Drittel der Bevölkerung. Aus diesem demographischen Wandel und der sich dadurch ergebenen gesellschaftlichen Vielfalt folgt eine besondere Verantwortung der Institution Schule. Als zentrale Sozialisationsinstanz einer modernen Gesellschaft muss sie ihre Funktionsweise und ihre Angebote so entwickeln, dass sie die Realität einer Migrationsgesellschaft abbildet und ihr gerecht wird.

Was ist Migrationsgesellschaft?

Der Begriff Migrationsgesellschaft findet im Diskurs um Migration und demographischen Wandel Verwendung. Er ist dabei als breiter aufgestellte Alternative zum ebenfalls häufig genannten Begriff Einwanderungsgesellschaft zu verstehen. Der Unterschied zwischen den beiden Begriffen kann wie folgt zusammengefasst werden: Während Einwanderung in erster Linie eine undirektionale Wanderbewegung von einem Ort zu einem anderen beschreibt, ist Migration ein analytischer Begriff, der die durch Migrationsprozesse hervorgerufenen gesellschaftlichen Veränderungen in ihrer Komplexität in den Fokus rückt (vgl. Foroutan & İkiz, 2016).

Die Wirkungen, die Migrations- und Globalisierungsprozesse auf die Gesellschaft haben, sind ambivalent. Einerseits stoßen sie gesellschaftliche Wandlungsprozesse an, indem z.B. verschiedene Lebensweisen oder Sprachen in die Gesellschaft hineingetragen werden (vgl. ebd.). Andererseits stört das Neue und Fremde, das durch Migration und Globalisierung hinzukommt, die gewohnten Vorstellungen von Normalität und Zugehörigkeit (vgl. Messerschmidt, 2008, S. 5f.). Dies führt häufig zu Abwehrmechanismen, in denen Differenzen betont und das schon Bestehende in Abgrenzung zu Migrant/innen definiert wird.

Übertragen auf den Schulkontext lässt sich zwar feststellen, dass Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund in der Schule im Durchschnitt schlechter abschneiden als gleichaltrige herkunftsdeutsche Mitschüler/innen, jedoch ist der Bildungserfolg in Deutschland stark sozial abhängig – und Kinder aus Haushalten mit einer Migrationsgeschichte leben noch immer überdurchschnittlich oft in niedrigeren sozioökonomischen Verhältnissen (vgl. Foroutan & İkiz, 2016). Dabei ist die soziale Benachteiligung keineswegs die einzige Erklärung für die schlechtere Bildungsbeteiligung von Kindern mit Migrationshintergrund. Vielmehr wurde festgestellt, dass Kinder mit Migrationshintergrund oftmals institutioneller Diskriminierung und einer defizitorientierten Perspektive des Lehrpersonals ausgesetzt sind: Die IGLU-Studie 2001 ergab z.B., dass Kinder mit Migrationshintergrund im Vergleich zu herkunftsdeutschen Kindern bei gleichem sozioökonomischen Status und gleichen Lesefähigkeiten eine fünfmal niedrigere Chance haben, eine Empfehlung für den Übertritt auf das Gymnasium zu bekommen (vgl. Bos et al., 2003; Fürstenau & Gomolla, 2011). Die Ergebnisse der aktuellsten IGLU-Studie 2011 bestätigen, dass sich an der 2001 festgestellten Schieflage keine großen Veränderungen gegeben haben (Vgl. Bos et al., 2012, S. 18f.).

Die mit Migration einhergehenden gesellschaftlichen Veränderungen werden an der Institution Schule repräsentiert. Aus der kulturellen Vielfalt im Klassenzimmer und den daraus folgenden politischen Reaktionen ergibt sich ein normativer Druck auf das Bildungssystem, denn die Schule hat nicht nur die Aufgabe und Funktion, Wissen zu vermitteln, sondern sollte auch die Verwirklichung schulpolitischer Ziele wie Gerechtigkeit und die Möglichkeit demokratischer Partizipation für Alle verfolgen (vgl. Fürstenau & Gomolla, 2011; Kiel 2016; Geier 2016). Da der soziale Status und die Herkunft eines Kindes in Deutschland aber immer noch maßgeblich für seinen Bildungserfolg sind, ist eine diversitätsbewusste interkulturell-migrationsgesellschaftliche Schulentwicklung für das Erreichen von Chancengleichheit nötig (vgl. Foroutan & İkiz, 2016).

⬅️ Theoretische Grundlagen 2. Aus welchen Perspektiven kann Diversität betrachtet werden? Ein Überblick über aktuelle Ansätze im Bereich interkultureller Bildung ➡️