Lehrstuhl für Schulpädagogik
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1.5 Grundlegende Reflexivität

  1. Reflexivität gegenüber dem eigenen Diskriminierungshandeln
  2. Reflexivität gegenüber der eigenen kulturellen Prägung
  3. Literatur

Reflexivität gegenüber dem eigenen Diskriminierungshandeln

In vielen Ansätzen zum Umgang mit interkultureller Vielfalt wird für Lehrkräfte eine Haltung der Reflexivität empfohlen, d.h. sich selbst und in seiner Rolle als handelndem Individuum kritisch in den Blick zu nehmen. Hierzu gehört zum einen eine Reflexivität gegenüber dem eigenen Diskriminierungshandeln.

Für z. B. Wagner (2017) ist die kontinuierliche Selbst- und Praxisreflexion ein zentraler Ansatz für eine vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung und besteht vor allem aus folgenden Punkten:

  • die eigene Handlungspraxis (gemeinsam) reflektieren und sich bewusstmachen, welchen Einfluss man ausübt;
  • sich eigene Vorbehalte und Vorurteile gegenüber bestimmten Gruppen (Eltern, Schüler/innen) eingestehen und sich zu fragen, woher diese rühren: Gerade bestimmte Etikettierungen sind hierbei interessante Phänomene, wenn man etwa gemeinsam nachforscht, warum bestimmte Schüler/innen mit abwertenden Begriffen wie z. B. "Kiecherliese", "Schlaftablette", "Heulsuse", "Luftikus" usw. benannt werden (vgl. Wagner, 2017, S. 269);
  • hinter dem eigenen Handeln gesellschaftliche Widersprüche, Konformitätsdruck und verinnerlichte Dominanzbestrebungen sichtbar machen;
  • die eigene Wahrnehmung schärfen, für Äußerungen und Handlungen, die unfair sind: Wagner betont vor allem, hierbei auch Mikrointeraktionen mit Eltern und Schüler/innen in den Blick zu nehmen, da in jeder Interaktion "Machtasymmetrien und Hierarchien, Privilegien und Status, Dominanzkultur und Marginalisierung eine Rolle" (Wagner, 2017, S. 275) spielen. Ferner verweist Wagner darauf, dass die Reflexion im Team erfolgen muss, da nur so das Einbeziehen unterschiedlicher Sichtweisen und Blickwinkel verschiedener Lehrkräfte möglich wird. Inhaltlich sollte man sich die Frage stellen, welche Vorurteile das eigene Handeln prägen, und wie sie Einfluss auf die pädagogische Praxis nehmen.

Unschuldige Fragen (vgl. Wagner 2017, S. 276)

Würden Eltern mit Migrationshintergrund z. B. von einer Lehrkraft nach ihrer Sprachpraxis im Umgang mit ihren Kindern gefragt, so könnte diese auf den ersten Blick unschuldige Frage durchaus als eine Arte Machtdiskurs verstanden werden. Aufgrund des allgemeinen Akkulturationsdrucks, der den öffentlichen Diskurs bestimmt, vermuten viele Eltern, dass sie nur dann als "gute" Eltern gelten, wenn sie mit ihren Kindern Deutsch sprechen, sodass diese in der Schule gut mitkommen können. Das Eingeständnis, daheim "noch immer" in der eigenen Herkunftssprache zu sprechen, könnte ihnen vor diesem Hintergrund als "Integrationsunwilligkeit" ausgelegt werden. Als Konsequenz dürften sie der Frage der Lehrkraft misstrauisch gegenüberstehen: warum fragt die Lehrkraft? Welche Konsequenz wird für mich und meine Kinder haben, wenn ich ihr sage, dass wir zu Hause in unserer Herkunftssprache sprechen?

Auch Doğmuş, Karakaşoğlu & Mecheril (2016, S. 5) fordern, dass sich Lehrkräfte zu einem "reflective pracitioner" ausbilden müssen. Sie sehen es als wesentliche Aufgabe interkulturellen, pädagogischen Könnens in der Migrationsgesellschaft, dass Lehrer "differenzsensibel" und "diskriminierungskritisch" sind (Doğmuş u.a. 2016, S. 4). Sensibel für Differenzen zu sein, bedeutet nach ihrem Verständnis, die Bezugsgrößen migrationsgesellschaftlicher Heterogenität mit Respekt, untermauertem Fachwissen und Sachverstand verstehen, bearbeiten und in seiner Relevanz einordnen zu können (z.B. Wissen bzgl. unterschiedlicher gesellschaftlichen Gruppen, Fähigkeit zum Perspektivenwechsel, Empathie, trainierte Aufmerksamkeit für Kommunikationsverhalten, Ethnozentrismus-Reflexion). Die diskriminierungskritische Perspektive betont, dass gesellschaftliche Unterschiedlichkeiten immer auch unter den Vorzeichen von Machtasymmetrien und hiermit verbundenen Aus- und Abgrenzungen stehen (wie z.B. reicher Norden - armer Süden, Kolonialgeschichte, deutsche Mehrheitsgesellschaft und migrantische Bevölkerung heute, Diskriminierung im deutschen Schulsystem durch Lehrer oder Schüler).

Reflexivität gegenüber der eigenen kulturellen Prägung

Innerhalb der Interkulturellen Pädagogik wird z.B. von Auernheimer darauf verwiesen, dass es sinnvoll ist, Einflüsse von Kultur auf das Verhalten nicht völlig zu ignorieren (z.B. Auernheimer, 2013, S. 64). Betont wird auch, dass Kultur "im Sinne der kollektiven Deutungsmuster einer Lebenswelt" (Nieke 2008, S. 33) uns und damit auch den schulischen Kontext prägt und dass wir uns "diesen Prägungen grundsätzlich nicht entziehen können" (ebd.). Er warnt davor, dass ein Ignorieren dieser Tatsache leicht dazu führen kann, dass wir in unserem "Ethnozentrismus" verstrickt bleiben.

Ethnozentrismus
Der Begriff des Ethnozentrismus selbst wurde von dem Soziologen William Graham Sumner in den wissenschaftlichen Diskurs eingebracht. Seine klassisch gewordene Begriffsdefinition lautet: "Ethnocentrism is the technical name for this view of things in which one's own group is the center of everything, and all others are scaled and related with reference to it" (Sumner, 1959, S. 13). Ethnozentrismus wird heutzutage, je nach Forscherperspektive, eher als eine bewusste Haltung gesehen oder als unbewusst verankert verstanden. Dem dominierenden Verständnis der Interkulturellen Kommunikation zufolge steuern eigenkulturelle Normalitätserwartungen das Denken, Fühlen und Handeln der Mitglieder einer Gruppe. Diese kulturellen "Selbstverständlichkeiten" führen (oft) zur Abwertung anderer und deren kulturfremden Verhaltens.

In der Interkulturellen Kommunikation und der Kulturanthropologie wird davon ausgegangen, dass Sozialisation in einem kulturellen Kontext und die Übernahme resultierende Übernahme kultureller Werte (tragischerweise) immer auch zu einem mehr oder minder ausgeprägten Ethnozentrismus führt. Dieser beinhaltet die Tendenz, eine Richtigkeit unserer eigenen kulturellen "Selbstverständlichkeiten" (respektive Werthaltungen) auszuprägen, die unser Denken, Wahrnehmen und Handeln bestimmen. Gleichzeitig ist damit verbunden, kulturfremdes, "abweichendes" Verhalten abzuwerten. Ethnozentrismus hat für das pädagogische Handeln umfassende Konsequenzen, da er prinzipiell alle Lebensbereiche umfasst.

Eine Lehrkraft sollte bedenken, dass jede erzieherische Maßnahme, jede Schülerbeurteilung, jedes Elterngespräch, jede Unterrichtsform und -konzeption, das bereitgestellte, pädagogische Material (Schulbücher etc.), die organisationalen Rahmenbedingungen oder auch die Lehrerausbildung usw. von ethnozentrischen Werten geprägt sein dürfte. Ähnliches gilt natürlich auch für die Schüler/innen oder deren Eltern, deren Handeln im schulischen Kontext ebenso von eigenen, ethnozentrischen Haltungen umfassend beeinflusst wird.

Eine "stockkonservative" Familie

Sterzenbach & Moosmüller (2000, S. 86-87) zeigen an einem Beispiel aus einer interkulturellen Schulstudie, wie Lehrkräfte sich manchmal mit ihren Einschätzungen am deutschen Normalitätsspektrum orientieren. Eine Lehrkraft erzählte: "Wir hatten mal Probleme mit einer afghanischen Familie. Das Mädchen war mit drei deutschen Mädchen sehr gut befreundet. Dann kam das Mädchen in die Pubertät und kam mit ihren stockkonservativen Eltern einfach nicht mehr zurecht. Das Mädchen ist weggelaufen, zu einer Freundin. Die Eltern der Freundin haben die Polizei gefragt, was man in so einem Fall tun soll. Die Antwort war: Kinderschutzbund. Da ist das Mädchen zwei Monate geblieben. Ein halbes Jahr später hat sich das nochmal wiederholt und jetzt scheint die Sache wieder in Ordnung zu sein. Das Mädchen hat einfach gegen das Verhalten zu Hause rebelliert."
Im Beispiel wir den Autoren zufolge den Eltern nicht zugestanden, dass sie möglicherweise grundlegend andere Vorstellungen von Erziehung, Familie und jungen Mädchen haben könnten. Sie werden kurzerhand nur in ein Spektrum von Normalität eingeordnet, das von sehr progressiv bis stockkonservativ reicht. Durch die mangelnde Reflexion dieser eigenen (ethnozentrischen) Sichtweise, kann es so passieren, dass erst Recht Diskriminierungen erfolgen, da die Möglichkeit verpasst wird, solche Kultur- und Wertekonflikte zu verstehen, geschweige denn, angemessene Hilfestellung geben zu können - einfach, weil sie schlichtweg gar nicht wahrgenommen werden (wollen).

Aus der Gefahr des Ethnozentrismus ergibt sich für Lehrkräfte die Mahnung, sich der eigenen Kulturgebundenheit bewusst zu werden, um die Perspektiven anderer, d.h. besonders der Schüler(innen) und Eltern sehen und besser verstehen zu können (vgl. Knabe, 2018). Die Forderung nach Schaffung einer derartigen "Kulturbewusstheit" stammt zuvorderst von Edward T. Hall, dem Begründer der Disziplin der Interkulturellen Kommunikation. Hall versteht Kultur als "Kommunikation" (Hall, 1990, S. 94). Er betont dabei einerseits, dass unser kommunikatives Handeln stets eine Verbindung zu unserem Denken und Fühlen aufweist und dass sich dies in ähnlichen kulturellen Umgebungen ähnelt. Andererseits betont er, dass uns diese kulturell geprägten Denk- und Fühlweisen oft nicht ins Bewusstsein treten. Ein Großteil der Kultur ist demnach außerbewusst (out-of-awareness), was bei der interkulturellen Kommunikation Missverstehen und Probleme hervorrufen kann. Hieraus ergibt sich nicht nur die Forderung, sich ganz allgemein Fachkenntnisse über andere kulturelle Kontexte zu verschaffen und auch über deren verdeckte Kulturmuster. Vor allem auch ist es nötig, eine Reflexivität gegenüber der eigenen kulturellen Prägung zu entwickeln und eigene ethnozentrische Denk-, Fühl- und Handlungsweisen aufzuspüren und zu hinterfragen.

Auch wenn die Beschäftigung mit einer angenommenen kulturellen Differenz innerhalb der Interkulturellen Pädagogik heute oft mit einem Unwohlsein verbunden ist (s. o.), postuliert man gleichzeitig auch, auf den Kulturbegriff nicht gänzlich verzichten zu wollen (z.B. Hamburger 2009, Auernheimer 2013): auch die Kulturbewusstheit gehört zu einer grundlegenden Reflexivität für den Umgang mit Vielfalt im pädagogischen Feld.

Checkliste - Kulturreflexive Haltung (angeregt durch Bender-Szymanski ,2010: 209 ff.)

  • Die Kulturgebundenheit eigenen Denkens, Wertens und Handelns anerkennen;
  • die eigene Betroffenheit als Chance zur Auseinandersetzung mit eigenen und fremdkulturellen Normen- und Regelsystemen nutzen;
  • eine möglichst unverzerrte Situations- und Konfliktanalyse vornehmen, um sich eventuell fremdkulturelle Normen- und Regelsysteme zu erschließen;
  • auch bei Schüler/innen, die zur zweiten bzw. dritten Generation der Migrationsbevölkerung zählen, ist mit fremdkulturellen Deutungs- und Handlungsmustern zu rechnen;
  • eigene Situationsdeutungen aber auch Deutungsalternativen entwickeln, die fremdkulturelle Bezugnahmen genauso berücksichtigen wie individuelle;
  • eigene Alltagstheorien über Enkulturation und Akkulturation mit wissenschaftlichen Erkenntnissen abgleichen und gegebenenfalls anpassen;
  • Unterschiede UND Gemeinsamkeiten bei allen Akteuren erkennen und reflektieren,
  • eigene Rechte und Pflichten prüfen und abwägen, inwieweit Anpassungen des eigenen Verhaltens möglich sind oder vom Gegenüber verlangt werden sollten;
  • bei Konflikten unter Berücksichtigung rechtlicher Aspekte nach Abwägen aller genannten Aspekte einen Interessenausgleich herstellen;
  • sich an der Weiterentwicklung von strukturellen Vorgaben und Kommunikations- und Kooperationsformen beteiligen;
  • sich von außen Hilfe und fachliche Unterstützung zur Aufarbeitung kultureller Fragen einholen, da eine völlig eigenständige Selbstreflexion meist nicht ausreicht, um den eigenen ethnozentrischen Rahmen zu verlassen.

Literatur

  • Auernheimer, G. (2012). Einführung in die interkulturelle Pädagogik (7. Aufl.). Darmstadt: WBG.
  • Auernheimer, G. (Hrsg.). (2013). Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Bender-Szymanski, D. (2010). Interkulturelle Kompetenz bei Lehrerinnen und Lehrern aus der Sicht der empirischen Bildungsforschung. In G. Auernheimer (Hrsg.), Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität. Interkulturelle Studien (S. 201–228). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Doğmuş, A., Karakaşoğlu, Y. & Mecheril, P. (2016). Einführung. In A. Doğmuş, Y. Karakaşoğlu & P. Mecheril (Hrsg.), Pädagogisches Können in der Migrationsgesellschaft (S. 1–9). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Knabe, L. (2018). Interkulturalität im Kindergarten: Das Kulturverständnis und dessen Auswirkungen auf die pädagogische Praxis eines Münchner Kindergartens. Unveröffentlichte Masterarbeit, Institut für Interkulturelle Kommunikation, Ludwig-Maximilians-Universität München.
  • Hall, E. T. (1990/1959). The silent language. New York: Anchor Books.
  • Hamburger, F. (2009). Abschied von der Interkulturellen Pädagogik. Plädoyer für einen Wandel sozialpädagogischer Konzepte. Weinheim u. München: Juventa Verlag.
  • Nieke, W. (2008). Interkulturelle Erziehung und Bildung. Wertorientierungen im Alltag. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Sterzenbach, G. & Moosmüller, A. (2000). Kulturkontakt – Kulturkonflikt in der Schule. Untersuchung zum interkulturellen Handeln an Münchner Schulen. München: Schul- und Kultusreferat der Landeshauptstadt München.
  • Sumner, W. G. (1959/1906): Folkways. A study of the sociological importance of usages, manners, customs, mores, and morals. New York: Dover Publications.
  • Wagner, P. (2017). Vielfalt respektieren, Ausgrenzung widerstehen. In P. Wagner (Hrsg.), Handbuch Inklusion. Grundlagen vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung, 4. Gesamtauflage (S. 262–279). Wiesbaden: Springer.
⬅️ 1.4 Kompetenzlosigkeitskompetenz nach Mecheril (2013) Fall 1: Rassistische Aussagen im Schulalltag ➡️