Lehrstuhl für Schulpädagogik
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4. Welches Verständnis von Interkulturalität wird im Portal vertreten?

  1. Interkulturalität als offener Prozess
  2. Interkulturalität braucht einen offenen, dynamisch verstandenen Kulturbegriff
  3. Interkulturalität als gesamtgesellschaftliche Bildungsherausforderung
  4. Anerkennung der Schwierigkeiten UND der Chancen interkultureller Begegnung
  5. Literatur
  6. Internetquellen

1. Interkulturalität als offener Prozess

Eine eingeschränkte oder eindeutige Definition von Interkulturalität für dieses Webportal scheint vor dem Hintergrund der höchst vielfältigen Begriffsvarianten, Forschungsbefunde und Theorieschulen zu Fragen der Diversität in Schule und Gesellschaft kaum möglich. Auch entwickeln sich ihre Fragen fortlaufend weiter (Krüger-Potratz, 2018, S. 189). Hieraus ergibt sich die Folgerung, dass das Verständnis von Interkulturalität einer offenen Ausrichtung folgen sollte. Es gilt, aktuelle gesellschaftliche und theoretische Entwicklungen aufmerksam wahrzunehmen und das bestehende Verständnis konstant zu überprüfen und weiterzuentwickeln.

Das vom Soziologen Niklas Luhmann (1997) angesprochene Problem, dass sich die Subsysteme einer funktional immer weiter ausdifferenzierten Gesellschaft autopoetisch gegen Neueinflüsse rigide verschließen, dürfte auch für das Thema Migration und Integration gelten. Es besteht die Gefahr, dass Schule die von außen an sie herangetragenen Begriffe nach ihrer Eigenlogik ausgestaltet, ohne ihre eigentlichen Qualitäten ernst zu nehmen. Interkulturelle Schulentwicklung würde dann leicht zu einer leeren Worthülse werden und Schulen sich z. B. bereits dann als „interkulturell“ verstehen, weil an ihr Schüler/innen mit migrationsgeschichtlich unterschiedlicher Herkunft versammelt sind. Eine wirkliche interkulturelle Schulentwicklung setzt jedoch erheblich mehr voraus. Es braucht den ernsthaften Willen der Schule und besonders der Schulleitung, sich den (z. T. unbequemen) Herausforderungen ihres interkulturellen Alltags zu stellen. Auch ein Höchstmaß an Offenheit und Gesprächsbereitschaft aller am Schulprozess Beteiligten, insbesondere der hier professionell tätigen Lehrkräfte, müsste hier eine Voraussetzung sein.

2. Interkulturalität braucht einen offenen, dynamisch verstandenen Kulturbegriff

Wenn hier von Interkulturalität die Rede ist, ist ein Kulturverständnis angesprochen, das die neueren Erkenntnisse aus den Kulturwissenschaften berücksichtigt.

Zunächst bedeutet dies die Anerkennung grundlegender Prämissen eines kulturwissenschaftlich orientierten Kulturbegriffs. Zu diesen zählen die Weitergabe und Erlernbarkeit von Kultur, ihre Verbindung und Auswirkung auf das kommunikative Verhalten, die Tatsache, dass sie von Mitgliedern einer Gruppe oder Gemeinschaft geteilt oder auch symbolisch neu ausgehandelt wird. Heute besonders wichtig ist, dass sie einem hochgradigen, dynamischen Wandel unterliegt, was auch bedeutet, dass es starre, einheitliche Kulturgebilde nicht wirklich festzumachen ist. Grundsätzlich ist auch von Bedeutung, dass das Sprechen oder Nachdenken über Kultur ein konstruktiver Akt ist. Es gibt sich nicht „per se“. Sie ist vielmehr nur eine Abstraktion, mit der wir menschliches (Gruppen-) Verhalten einer Deutung zuführen können.

Bedenkt man gerade die kritischen Strömungen der interkulturell orientierten Pädagogik wie z. B. der Migrationspädagogik (Mecheril, 2010) oder die Gefahren der Instrumentalisierung von Kultur und kultureller Differenz, empfiehlt es sich, Kultur nur als ein Erklärungsmoment heranzuziehen und Machtfragen gleichzeitig kritisch in den Blick zu nehmen (Morgan 2016: S. 356). Eine sinnvolle Haltung zum Umgang hierzu könnte sich z. B. aus dem Ansatz Annedore Prengels zur Pädagogik der Vielfalt (2006) ergeben oder aus dem komplementären Ansatz Moosmüllers (2004, S. 60-62).

Für die (schulische) interkulturelle Praxis ist hinsichtlich des Kulturbegriffs ein offenes Verständnis bei der Heranziehung von Kultur als möglicher Verhaltenserklärung eine unbedingte Voraussetzung (Morgan 2016: S. 356). Dies bedeutet für die Praxis vor allem auch, dass Kultur nicht sinnvoll als „Rezeptwissen“ funktionieren kann (á la „So sind die Syrer!“), wenn Lehrkräfte in der Praxis vor dem Problem stehen, sich Handlungen oder Ansichten von Eltern oder Schüler/innen zu erklären. Kultur kann in diesem Zusammenhang höchstens zur vorsichtigen Hypostasierung dienen: sie eignet ihrem Grundgedanken nach zur Deutung von Gruppenverhalten und weniger zur Auslegung von individuellem Verhalten - Kultur ist immer nur „mögliches Wissen“ (Morgan 2016, S. 358).

3. Interkulturalität als gesamtgesellschaftliche Bildungsherausforderung

Innerhalb des Feldes der interkulturellen Pädagogik hat man Abschied genommen vom früheren Paradigma der Ausländerpädagogik, das den migrantischen Schülern und Schülerinnen und ihren Eltern vor allem nur Defizite unterstellte. Hieraus ergibt sich die grundlegende Auffassung, dass kulturelle Vielfalt und Pluralisierung zu den tiefgreifenden und nachhaltigen Veränderungen der Gesellschaft und ihrer Bildungssysteme insgesamt gehören (Krüger-Potratz, 2018, S. 186). Auch in diesem Portal wird Interkulturalität als Bildungsherausforderung für alle Gesellschaftsmitglieder gesehen.

4. Anerkennung der Schwierigkeiten UND der Chancen interkultureller Begegnung

Eine doppelseitige Sichtweise auf Interkulturalität scheint angeraten: Einerseits ergibt sich aus den vielfältig existierenden Unterschiedlichkeiten sprachlicher, sozialer oder kultureller Art, dass interkulturelle Kommunikationsprozesse nicht immer einfach sind (z. B. Broszinsky-Schwabe, 2016, S. 12-27). Stress und Unsicherheiten sind übliche Begleiter bei der Fremdbegegnung (z. B. Gudykunst, 1988). Es ist auch für die Schule zu konstatieren, dass interkulturelle Begegnungen in allen möglichen Facetten für alle Beteiligten schwierig werden können (z.B. Mafaalani, A., 2012; Buchwald & Ringeisen 2007).

Andererseits gilt gleichzeitig, dass Interkulturalität auch eine Ressource darstellen kann und nicht nur einen Störfaktor (Krüger-Potratz, 2018, S. 187). So zeigte z. B. eine aktuelle US-amerikanische Studie, dass sich Leistungen vormals schwacher Schüler/innen durch die bewusste Auseinandersetzung mit ethnischer Diversität deutlich verbesserten (Dee & Penner, 2017).

5. Literatur

  • Auernheimer, G. (2012). Einführung in die interkulturelle Pädagogik (7. Aufl.). Darmstadt: WBG.
  • Auernheimer, G. (Hrsg.). (2013). Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Broszinsky-Schwabe, E. (2016). Interkulturelle Kommunikation. Missverständnisse-Verständigung (2. Aufl.). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Gudykunst, W. B. (1988). Uncertainty and Anxiety. In Y. Y. Kim & W. B. Gudykunst (Hrsg.), Theories in intercultural communication (S. 123–156). Newbury Park: Sage.
  • Krüger-Potratz, M. (2018). Interkulturelle Pädagogik. In I. Gogolin, V. B. Georgi, M. Krüger-Potratz, D. Lengyel & U. Sandfuchs (Hrsg.), Handbuch Interkulturelle Pädagogik (S. 183–190). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
  • Luhmann, N. (1997). Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
  • Mecheril, P. (2010). Migrationspädagogik. Hinführung zu einer Perspektive. In S. Andresen, K. Hurrelmann, C. Palentien & W. Schröer (Hrsg.), Migrationspädagogik (S. 7–22). Weinheim und Basel: Beltz Verlag.
  • Morgan, M. (2016). Erziehungspartnerschaft und Erziehungsdivergenzen. Die Bedeutung divergierender Konzepte von Erzieherinnen und Migranteneltern. Wiesbaden: Springer.
  • Moosmüller, A. (Hrsg.). (2007). Interkulturelle Kommunikation. Konturen einer wissenschaftlichen Disziplin. Münchener Beiträge zur Interkulturellen Kommunikation, Bd. 20. Münster u.a.: Waxmann.
  • Prengel, A. (Hrsg.). (2006). Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

6. Internetquellen

  • Buchwald, P. & Ringeisen, T. (2007). Wie bewältigen Lehrer interkulturelle Konflikte in der Schule? Eine Wirksamkeitsanalyse im Kontext des multiaxialen Coping-Modells. Interculture journal: Online-Zeitschrift für interkulturelle Studien, 6 (5), 71–98. Verfügbar unter http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-455024 [03.06.2018].
  • Dee, D. S. & Penner, E. K. (2017). The Causal Effects of Cultural Relevance. American educational research journal, 54 (1), 127–166. Verfügbar unter http://www.nber.org/papers/w21865 [16.06.2017].
  • Mafaalani, A. (2012). Migrations- und ungleichheitsbedingte Missverständnisse in der Schule. Interculture journal: Online-Zeitschrift für interkulturelle Studien, 11 (19), 33–41. Verfügbar unter http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-452021 [03.06.2018].
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