2.3 Mehrsprachigkeit in der Schule
- Lebensweltliche Mehrsprachigkeit: was bedeutet das?
- ‚Problematische‘ Mehrsprachigkeit‘?
- Mehrsprachigkeit im Unterricht fördern
1. Lebensweltliche Mehrsprachigkeit: was bedeutet das?
Mehrsprachigkeit nimmt in der heutigen globalisierten Welt einen immer höheren Stellenwert ein. U.a. finden sich im Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen, welcher wesentlich auf die Entscheidungen des Europarats Bezug nimmt, wichtige Implikationen für den Unterricht, die die kompetenzorientierte Förderung der lebensweltlichen Mehrsprachigkeit zum Ziel haben.
Dabei wird der Begriff ‚Mehrsprachigkeit‘ von dem Begriff ‚Vielsprachigkeit‘ insofern abgegrenzt, dass es dabei nicht um eine reine ‚Anhäufung‘ von Sprachen, sondern um eine Einbettung dieser in einen sozialen und kulturellen Kontext geht.
Gemeinsam bilden verschiedene Sprachen eine kommunikative Kompetenz, „zu der alle Sprachkenntnisse und Spracherfahrungen beitragen und in der die Sprachen miteinander in Beziehung stehen und interagieren.“ (Trim et al., 2001, S. 17). Es wird betont, dass Menschen je nach Situationskontext auf verschiedene Teile ihrer Mehrsprachigkeitskompetenz zurückgreifen können, um effektiv zu kommunizieren – zum Beispiel können Gesprächspartner/innen zwischen verschiedenen Sprachen oder Dialekten wechseln, um alle Möglichkeiten des jeweiligen Sprachgebrauchs effektiv in der Kommunikation zu nutzen.
Bild: Pixabay.com
Für den Sprachunterricht bedeutet dies vor allem, dass Ziele des Sprachunterrichts grundsätzlich neu formuliert werden müssen:
"Man kann es nicht mehr in der Beherrschung einer, zweier oder vielleicht dreier Sprachen sehen, wobei jede isoliert gelernt und dabei der 'ideale Muttersprachler' als höchstes Vorbild betrachtet wird. Vielmehr liegt das Ziel darin, ein sprachliches Repertoire zu entwickeln, in dem alle sprachlichen Fähigkeiten ihren Platz haben. Dies impliziert natürlich, dass das Sprachenangebot der Bildungseinrichtungen diversifiziert wird und dass die Lernenden die Möglichkeit erhalten, eine mehrsprachige Kompetenz zu entwickeln." ebd.
! Wichtige FAQ’s zu lebensweltlicher Zwei- Mehrsprachigkeit werden auf der Seite des Vereins frühe Mehrsprachigkeit an Kitas und Schulen (FKMS) zusammengefasst: http://www.fmks-online.de/faq.html#11. Die Antworten richten sich vordergründig an Eltern, können aber auch für Pädagog/innen durchaus interessant sein.
Der erste Podcast zum Thema „Sprache“ bietet Fakten zu Nutzen und Risiken von Mehrsprachigkeit in Schule und Unterricht, zum Mehrwert von Mehrsprachigkeit in Schule und gibt einen Einblick in die Lebenswelt eines mehrsprachig aufwachsenden Jugendlichen.
Timecodes
- Begrüßung
- 01:50 Ausgangslage
- 03:39 Ein- vs. mehrsprachige Vorstellungen von Schule
- 20:54 defizitäre Vorstellungen, Lösungsansätze
- 32:09 Die Schülerperspektive auf Mehrsprachigkeit (Erfahrungen)
Alle weiteren Podcasts aus dem Projekt „Schule für alle“ finden Sie hier.
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Quellen
- Bildquelle: Pixabay.com. Verfügbar unter https://pixabay.com/de/gruppe-team-feedback-r%C3%BCckmelden-1825513/ [06.07.2017].
- Trim, J., North, B. & Coste, D. (2001). Gemeinsamer Europäischer Referenzrahmen für Sprachen: lernen, lehren, beurteilen. Straßburg: Europarat. Verfügbar unter http://student.unifr.ch/pluriling/assets/files/Referenzrahmen2001.pdf [06.07.2017].
2. „Problematische“ Mehrsprachigkeit?
‚Monolingualer Habitus‘ und Deutschgebote an Schulen
Die schulische Praxis befindet sich in einem Spannungsbogen zwischen der Wertschätzung der ‚mitgebrachten‘ Sprachkompetenzen der Schüler/innen einerseits und der Fokussierung auf die bestmögliche Förderung in der deutschen Sprache andererseits. Der Umgang mit lebensweltlicher Mehrsprachigkeit der Kinder gilt nicht nur auf individueller Ebene (einzelne Lehrkräfte), sondern auf der Ebene des gesamten Bildungssystems als Herausforderung. Sämtliche Strukturen, Abläufe und Funktionsmechanismen des deutschen Schulsystems sind a priori auf eine Sprache (Deutsch) ausgelegt. Dies bezeichnet die Sprachwissenschaftlerin Ingrid Gogolin als „monolingualen Habitus“ der Schule (vgl. Gogolin, 1994) und weist damit auf eine Diskrepanz zwischen strukturellen Normvorstellungen und der gegebenen Realität.
Diese Diskrepanz wird am Beispiel der so genannten ‚Deutschgebote‘ an Schulen besonders deutlich:
Beispiel: Anerkennung der institutionellen Einsprachenpolitik, vgl. Reimann 2016.
Indem sich eine Schule bspw. für ein pauschales ‚Deutschgebot‘ auf dem gesamten Schulgelände (inkl. Pausenhof) entscheidet, wird signalisiert, dass Deutsch die einzige ‚legitime‘ Sprache im gesamten schulischen Raum darstellt. Im Sinne eines anerkennenden Umgangs mit lebensweltlicher Mehrsprachigkeit der Schüler/innen ist eine solche Entscheidung problematisch. Jedoch können Schulen bestimmte Regeln zum sprachlichen Gebrauch vereinbaren – zum Beispiel festlegen, dass immer dann Deutsch gesprochen werden soll, wenn auch nur eine Person anwesend ist, die die gerade gesprochene andere Sprache nicht versteht. Selbstverständlich sollten solche Vereinbarungen mit dem Kollegium, den Schüler/innen und ihren Eltern abgestimmt werden (vgl. Hurrelmann, 2016).
Sprachhierarchien
Darüber hinaus lässt sich mit Blick auf die Bedeutung verschiedener Sprachen im deutschen Bildungssystem eine deutliche Hierarchie der Sprachen feststellen: den in der Schule am häufigsten gelehrten („europäischen“) Fremdsprachen (Englisch, Französisch etc.) wird oft ein höherer Stellenwert eingeräumt als den Muttersprachen der Schüler/innen (vgl. Dirim, 2010). Da bspw. Englisch seit Längerer Zeit einen unbestrittenen Status als Weltsprache genießt, die für Handel, Politik, Kultur und Fernverkehr immer häufiger genutzt wird (vgl. Bundeszentrale für Politische Bildung, 2017), ist eine solche Priorisierung logisch, kann jedoch für Kinder, deren Sprachen in der Schule ‚verboten‘ oder nicht als ‚förderungswürdig‘ angesehen werden, verletzend sein.
‚Doppelte Halbsprachigkeit‘
Oft ist in der öffentlichen Diskussion und in bildungspolitischen Kontexten von der so genannten ‚doppelten Halbsprachigkeit‘ der Kinder die Rede:
Nakipoğlu-Schimang o.J.
Die Annahme der ‚doppelten Halbsprachigkeit‘ gilt wissenschaftlich als höchst umstritten. In der Bezeichnung der ‚doppelten Halbsprachigkeit‘ kommt eine Defizitorientierung hinsichtlich der ‚mitgebrachten‘ sprachlichen Kompetenzen der Schüler/innen zum Ausdruck. Diese widerspricht zum einen der ressourcenorientierten Sichtweise auf den Sprachenerwerb, die eine Abkehr vom Bild eines ‚idealen Muttersprachlers‘ fordert und explizit auch die Kenntnisse der jeweiligen Familiensprachen sowie Kompetenzen in anderen Varianten als dem Standarddeutschen (z. B. Dialekte oder Soziolekte) würdigt. Zum anderen fällt auf, dass die Bezeichnung der ‚doppelten Halbsprachigkeit‘ in der Regel nur in Bezug auf bestimmte Migrant/innen-Gruppen verwendet wird (so wird deutsch-englische Mehrsprachigkeit selten als ‚doppelte Halbsprachigkeit‘ bezeichnet) (vgl. Fürstenau, 2011, S. 33).
Quellen
- Gogolin, I. (1994). Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule. Münster/New York: Waxmann.
- Dirim, I. (2010). „Wenn man mit Akzent spricht, denken die Leute, dass man auch mit Akzent denkt oder so.“ Zur Frage des (Neo-)Linguizismus in den Diskursen über die Sprache(n) der Migrationsgesellschaft. In P. Mecheril, I. Dirim, M. Gomolla, S. Hornberg & K. Stojanov (Hrsg.), Spannungsverhältnisse. Assimilationsdiskurse und interkulturell-pädagogische Forschung (S. 91–111). Münster u.a: Beltz Juventa.
- Fürstenau, S. (2011). Mehrsprachigkeit als Voraussetzung und Ziel schulischer Bildung. In S. Fürstenau & M. Gomolla (Hrsg.), Migration und schulischer Wandel: Mehrsprachigkeit (S. 25–50). Wiesbaden: VS Verlag.
- Hurrelmann, K. (2016). Pro und Kontra Deutschpflicht. Schlüssel zur Integration versus kulturelle Vielfalt. Verfügbar unter http://www.berliner-zeitung.de/berlin/pro-und-kontra-deutschpflicht-schluessel-zur-integration-versus-kulturelle-vielfalt-24925480 [31.08.2017].
- Nakipoğlu-Schimang, B. (o.J.). KOALA - KOordinierte ALphabetisierung im Anfangsunterricht. Eine didaktische Entscheidung. [06.07.2017, inzwischen online nicht mehr verfügbar].
- Reimann, A. (2016). Sprachregeln auf dem Schulhof. Staatsministerin Özoguz lobt Berliner Schule für Deutschpflicht (Interview mit Aydan Özoguz). Verfügbar unter http://www.spiegel.de/politik/deutschland/deutschpflicht-auf-schulhoefen-aydan-oezoguz-kritisiert-tbb-a-1117501.html [14.09.2017].
3. Mehrsprachigkeit im Unterricht fördern
In der Wissenschaft besteht heutzutage weitgehender Konsens darüber, dass lebensweltliche Mehrsprachigkeit der Schüler/innen nicht nur gewürdigt, sondern auch gezielt gefördert werden sollte. Um die vorhandenen Sprachkenntnisse der Schüler/innenschaft nutzbar zu machen, ist ein strukturierter und kontrollierter Aufbau von Kompetenzen notwendig.
Mehrere Studien beweisen, dass durch den frühen Erwerb mehrerer Sprachen sogar das Erlernen weiterer Sprachen vereinfacht wird (vgl. Engin, 2017). Des Weiteren können Vergleiche zwischen Sprachen genutzt werden, um sprachliche Unterschiede zu erkennen und zu erklären. Hierbei wirkt sich der Kompetenzlevel der Muttersprache durch Sprachtransferprozesse auch stark auf die allgemeine Sprachkompetenz aus: Je höher die Kompetenz in der Muttersprache, desto höher ist auch die allgemeine mündliche und schriftliche Sprachkompetenz (vgl. Tunc, 2012).
Es gibt mehrere wissenschaftliche Ansätze, die die Mehrsprachigkeit im Klassenzimmer thematisieren – hier nur eine kleine Auswahl:
- Translanguaging: „Der Begriff ‚Translanguaging‘ beschreibt den Prozess, in dem Personen flexibel und strategisch auf ihr gesamtes sprachliches und nicht-sprachliches Repertoire zurückgreifen, um zu kommunizieren, Wissen zu konstruieren, Verständnis zu erzeugen und ihre sprachliche Identität auszudrücken.“ (vgl. Kirsch & Montini, 2016, S. 23). Das Translanguaging-Konzept wird dabei häufig irrtümlich mit einem chaotischen, unkontrollierten Mischen von Sprachen in Verbindung gebracht. Tatsächlich geht es bei Translanguaging eher darum, dass im Rahmen des Unterrichts gezielt Räume für Schüler/innen geschaffen werden, in denen sie die Möglichkeit haben, ihr gesamtes Repertoire beim und zum Lernen einzusetzen. Gleichzeitig müssen Schüler/innen sehr wohl auch lernen, sich korrekt und ohne ‚Sprachmischungen‘ in der jeweiligen Unterrichtssprache auszudrücken (vgl. ebd., S. 25).
- Language Awareness: Hier wird die zu lernende Sprache (bzw. Unterrichtssprache) unter Einbeziehen der Mutter- bzw. Herkunftssprachen der Schüler/innen zum Lerngegenstand gemacht. Dabei wird Sprachwissen bewusst gemacht und deren Strukturen und Wirkung untersucht. Die Möglichkeiten, den Language Awareness-Ansatz im Unterricht umzusetzen, sind sehr vielfältig: im Mathematikunterricht (Nutzung weiterer Sprachen bei der Einführung der Zahlwörter im Deutschen, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu erarbeiten), im Biologieunterricht (z. B. Vergleich von Tiernamen als Anlass, verschiedene Einblicke in andere Sprachen zu gewinnen und zu verdeutlichen, dass sprachliche Bezeichnungen auf verschiedene Weise die Realität abbilden können), Deutsch, Politik oder Sozialwissenschaften (Auseinandersetzung mit verschiedenen Jugendsprachen), usw. (vgl. Gürsoy, 2010, S. 3)
- Sprachsensibler Fachunterricht: Ein sprachsensibler Fachunterricht erkennt, dass von Sprach- und Fachlernen stark miteinander verknüpft sind. Beim sprachsensiblen Fachunterricht wird die Sprache bewusst so eingesetzt, um das fachliche Lernen nicht durch vermeidbare sprachliche Schwierigkeiten zu erschweren. Eine erweiterte Form des sprachsensiblen Fachunterrichts ist der zweisprachige Fachunterricht, in dem zwei Sprachen neben dem Fachinhalt selbst als Unterrichtswerkzeug eingesetzt werden (vgl. Leisen, o. J. und Leisen, 2011).
Im zweiten Teil unseres Podcasts werden Handlungsansätze und -prinzipien für das Aufgreifen von Mehrsprachigkeit im Unterricht thematisiert. Unsere Expertinnen stellen konkrete Beispiele aus der Praxis vor und geben Anregungen hinsichtlich geeigneter Unterrichtsmaterialien. Auch Herausforderungen und Risiken, die bedacht werden sollten, werden aufgegriffen.
Timecodes
- Begrüßung
- 00:59 Aufgreifen von Mehrsprachigkeit im Unterricht
- 05:28 Translanguaging-Ansatz
- 08:11 Ressourcen / Wille / Haltung
- 18:34 konkrete Umsetzung in Schulen
- 24:49 Eltern als Sprachvorbilder / Mitbeteiligte
- 27:06 koordinierte Alphabetisierung / reziprokes Lesen
- 30:28 Wissenschaftliche Hilfestellungen, Didaktik der Sprachenvielfalt
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Quellen
- Engin, H. (2017). Die Bedeutung der Erstsprache für die Entwicklung von Lesekompetenz bei mehrsprachigen Kindern in der Grundschule. In Kultusministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Handreichung Leseförderung und Mehrsprachigkeit (im Druck).
- Gürsoy, E. (2010). Language Awareness und Mehrsprachigkeit. Verfügbar unter https://www.uni-due.de/imperia/md/content/prodaz/la.pdf [21.06.2017].
- Kirsch, C. & Mortini, S. (2016). Translanguaging: Eine innovative Lehr- und Lernstrategie. Sprachbildung, September 2016, 23–25.
- Leisen, J. (o. J.). Anregungen für einen sprachsensiblen Fachunterricht. Verfügbar unter http://daz-lernwerkstatt.de/download/daz-tage_/4._daz-tage/daz-tage-4-tag-1/LeisenZusammenfassung_-_Vortrag_-_Sprachsensibler_Fachunterricht.pdf [21.06.2017].
- Leisen, J. (2011). Praktische Ansätze schulischer Sprachförderung – Der sprachsensible Fachunterricht. Verfügbar unter https://www.hss.de/fileadmin/media/downloads/Berichte/111027_RM_Leisen.pdf [21.06.2017].
- Tunc, S. (2012). Der Einfluss der Erstsprache auf den Erwerb der Zweitsprache. Eine empirische Untersuchung zum Einfluss erstsprachlicher Strukturen bei zweisprachig türkisch-deutschen, kroatisch-deutschen und griechisch-deutschen Hauptschülern und Gymnasiasten. Münster u.a: Waxmann.
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