Lehrstuhl für Schulpädagogik
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3.3 Aufgabenorientierte diversitätssensible Unterrichtsentwicklung

Unterrichtsentwicklung kann an unterschiedlichen „Stellschrauben“ des Unterrichts ansetzen: den Themen, Gegenständen und Inhalten, den Methoden und Sozialformen, dem Medieneinsatz oder an den Aufgaben und Problemen, die die Schülerinnen und Schüler lösen sollen. Letztere Möglichkeit, über die Weiterentwicklung von Unterricht nachzudenken, soll im Folgenden hier entfaltet werden. Dies erscheint als sinnvoll, da Aufgaben einen konstitutiven Bestandteil von Unterricht ausmachen (Braun, Buyse & Syring, 2016).

Das TARGET-Modell und seine Erweiterung

Das von Carol Ames (1992) ursprünglich für das Thema Motivierung im Unterricht entwickelte TARGET-Modell stellt eine konstruktive Möglichkeit dar, über die Gestaltung von diversitätssensiblen Aufgaben für möglichst alle Schülerinnen und Schüler nachzudenken.

T Ausgangspunkt sind die Aufgabenstellungen („Task“), welche den Kern modernen handlungsorientierten Unterrichts bilden und möglichst viele Lernzugänge ermöglichen sollen.
A Bei der Dimension Autorität und Autonomie („Authority“) geht es einerseits darum, die Autonomie für alle Schülerinnen und Schüler in einem gegebenen Rahmen zu ermöglichen und gleichzeitig für alle („All Means All“) Partizipationsmöglichkeiten zu eröffnen.
R Die dritte Dimension Anerkennung („Recognition“) thematisiert die verschiedenen Formen von Anerkennung, die nicht unbedingt an Leistung gebunden sind.
G Die Dimension Gruppierung („Grouping“) spielt im diversitätssensiblen Unterricht ebenfalls eine besondere Rolle. Je nachdem, welche Voraussetzungen die Schülerinnen und Schüler mitbringen, sind verschiedene Kooperationsmöglichkeiten sinnvoll oder nicht sinnvoll. Eine besondere Aufmerksamkeit erfährt hier die Bevorzugung kooperativer Formen gegenüber wettbewerbsorientierten Formen.
E Die Dimension Bewertung („Evaluation“) will für unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe sensibilisieren. Es geht wesentlich um eine Bevorzugung individueller und kriterialer Bezugsnomen gegenüber sozialen Vergleichen.
T Die Dimension Zeit („Timing“) hat schon jetzt eine große praktische Bedeutung, denn Schülerinnen und Schüler haben unterschiedliche Lerntempi oder können häufig Nachteilsausgleiche in Form von Zeit in Anspruch nehmen.

Kiel (im Druck) folgend, kann das TARGET-Modell mit Blick auf seine Dimensionen und den konkreten Einsatz für Aufgaben im diversitätssensiblen, inklusiven Unterricht um eine weitere Dimension erweitert werden: den Support.

S Support bzw. Unterstützung meint, Schülerinnen und Schülern mit besonderen Bedürfnissen unterschiedlichste Unterstützungsmaßnahmen für eine erfolgreiche Aufgabenbewältigung zukommen zu lassen.

Im Folgenden wird das Modell mit konkreten Ideen und Handlungsanweisungen erweitert (vgl. Kiel, im Druck). Dabei werden vor allem diversitätssensible Maßnahmen in den Vordergrund gerückt.

Task (Aufgabenstellung)
  • Anpassung der Schwierigkeit der Aufgaben an die (z.B. sprachlichen) Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler
  • Nutzung von Aufgaben, die einen oder besser noch mehrere Lebensweltbezüge haben und damit Zugänge zu verschiedenen Lebenswelten, Milieus etc. ermöglichen
  • Strukturierung der Lernaktivitäten in Teilschritte, anhand derer Schülerinnen und Schüler eigene Fortschritte erkennen können Reduktion komplexer Aufgaben
  • Ermöglichung mehrerer Lösungswege
  • Überprüfung der Aufgaben auf Diversitätssensibilität und unzulässige Verallgemeinerungen, Stereotype oder Rassismen
Authority (Autorität und Autonomie)
  • Der Entwicklung der Schülerinnen und Schüler angemessene Übertragung von Verantwortung für Lernprozess und Lernergebnisse
  • Rotationsprinzip bei der Übertragung von Verantwortung (z.B. in Gruppenarbeiten) damit alle, unabhängig von z.B. sprachlichen Fähigkeiten oder Herkunft, Verantwortungsübernahme erlernen können
  • Entsprechend der Selbstregulation der Schülerinnen und Schüler Möglichkeiten zur Wahl anbieten (bei Themenwahl, Aufgabenauswahl, Präsentationsform etc.)
Recognition (Anerkennung)
  • Vermehrte Anerkennung von Anstrengung durch Lob, positive emotionale Reaktionen, Belohnung und andere Formen der Verstärkung Anerkennung von individuellen Verbesserungen
  • Keine Bevorzugung von leistungsstarken oder leistungsschwachen Schülerinnen und Schülern
  • Keine Bevorzugung oder Benachteiligung von Schülerinnen und Schülern bestimmter Milieus bzw. aus bestimmten Herkunftsländern
  • Anerkennung von individuellen und/oder kreativen Lösungszugängen
  • Realisierung eines konstruktiven Fehlerklimas, in dem Fehler Lernchancen und nicht Anzeichen mangelnder Kompetenzen sind
Grouping (Gruppierung)
  • Verwendung von kooperativen Lernmethoden
  • Kein Erzwingen von Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit, sondern Anpassung an die individuellen Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler
  • Bei Bildung von Gruppen auf Heterogenität hinsichtlich unterschiedlicher Differenzkategorien achten
  • Einführung eines Rotationssystems: Schülerinnen und Schüler ohne (Lern-)Schwierigkeiten unterstützen individuell Schülerinnen und Schüler, die beim Lernen Hilfe brauchen
  • Möglichkeiten der Teilhabe an jedem Fach, keine Alternativangebote in der regulären Unterrichtszeit
  • Die kulturelle, sprachliche etc. Expertise der Schülerinnen und Schüler nutzen, ohne sie darauf zu reduzieren
Evaluation (Bewertung)
  • Verwendung von individuellen und kriterialen Bezugsnormen, beispielsweise Einführung von Kompetenzrastern zusätzlich zu Ziffernnoten
  • Einführung von Lernentwicklungsgesprächen
  • Gewährung von Nachteilsausgleich und/oder Notenschutz für individuell geltenden Maßstab bei Leistungsbewertung
  • Zulassen von individuellen Belegen zur Aufgabenbearbeitung
  • Bei Beurteilungen und Bewertungen keine Bezüge zur Herkunft der Schülerinnen und Schüler berücksichtigen
Timing (Zeit)
  • Gewährung von ausreichender Bearbeitungszeit für Aufgaben
  • Gewährung von ausreichender Bearbeitungszeit für Leistungstests durch einen Nachteilsausgleich (Nachteilausgleiche nicht nur für diagnostizierte sonderpädagogische Förderbedarfe)
  • Gewährung zusätzlicher Übungszeit für Präsentationen
  • Ausrichtung der Lernzeit an leistungsschwächeren Schülerinnen und Schülern (ggf. Zusatzaktivitäten für leistungsstärkere Schülerinnen und Schüler)
  • Gelegenheit zur eigenverantwortlichen Zeitplanung der Lernaktivitäten und zur eigenständigen Terminierung von Selbsttests, z.B. durch Wochen-, respektive Halbjahresplan
Support (Unterstützung)
  • Personelle und technische Unterstützung der Lernenden
  • Nutzung von Dolmetscher-/ Übersetzerdiensten (oder Hilfsmitteln)
  • Heranziehen von Kulturmittlern und Nutzung außerschulischer Begegnungsstätten
  • Verwendung leichter Sprache, umfassende Erklärung von Fachbegriffen und Zusammenhängen (Arbeitsaufträge)
  • Gewährung von Sitzplätzen mit guter Sicht auf Tafel/ Whiteboard
  • Befürwortung der Nutzung technischer Hilfsmittel (Laptop/ Tablet)

Bei all den genannten 6 Punkten des Modells gilt es darauf zu achten, dass

  • die Anerkennung von Diversität im Vordergrund steht und als Bereicherung und Herausforderung zugleich und nicht als Hemmnis des Unterrichts gesehen wird.
  • Diskriminierungen, verallgemeinernde Zuschreibungen und Rassismen vermieden werden. Diese können manchmal sogar erst entstehen, wenn man besonders diversitätsbewusst Aufgaben und Unterricht gestalten will (siehe auch „Kulturalisierung“). Die folgende Checkliste zur Selbstreflexion könnte dabei hilfreich sein:
Checkliste: Über Diskriminierung, Pauschalisierungen und Rassismen reflektieren
  • Diskriminierung und Rassismus sind Alltagsphänomene. Sie stellen „Teil der Lebenswirklichkeit aller Personen“ (Massumi & Fereidooni, 2017, S. 69) dar, weil jede Person sozialisationsbedingt stereotypes oder gar rassistisches Wissen besitzt.
  • Zu beachten ist, dass Diskriminierungen oft nicht nur bspw. entlang der Kategorie „ethnische Herkunft“ verlaufen, sondern gleichzeitig auch verschiedene andere Zugehörigkeiten der Person (Alter, Geschlecht, körperliche Verfassung…) betreffen können, weshalb ein intersektionelles Vorgehen [Verlinkung zu „Exkurs: Intersektionalität] gegen Diskriminierung notwendig ist.
  • Um Diskriminierungen und Rassismen angemessen entgegentreten zu können, ist es für Lehrkräfte notwendig, sich selbstreflexiv und kritisch mit eigenen Ressentiments, Stereotypen und Vorurteilen auseinanderzusetzen (Mecheril & Melter, 2010). Hilfreich könnten dabei folgende Fragen sein:
    • Was empfinde ich als diskriminierend/rassistisch und was nicht?
    • Wo und in welcher Form begegnet mir Diskriminierung, pauschalisierende Zuschreibungen und Rassismus in meinem beruflichen und persönlichen Alltag?
    • Wie versuche ich, Diskriminierung und Rassismus entgegenzutreten?
    • Wie gehe ich mit meinen eigenen vorurteilsbehafteten, rassistisch geprägten Vorstellungen, Denkweisen etc. um?
  • Wichtig für Pädagog/innen wäre auch, Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen von Schüler/innen ernst zu nehmen und diesen Möglichkeit zu bieten, darüber zu sprechen, ohne sie vorschnell als „überempfindlich“ zu bezeichnen. Die Gefahr der Verharmlosung von solchen Erfahrungen ist groß – insbesondere dann, wenn sich das pädagogische Personal sich ihrer „Reichweite und Bedeutung […] nicht bewusst ist, wenn die mit dieser Art von Erfahrungen verbundenen Affekte des Gegenübers für sie nicht handhabbar sind, […] wenn sie als Angehörige der (Majoritäts-)Gruppe der Verantwortung zur Auseinandersetzung mit dem Umstand des Rassismus [bzw. der Diskriminierung] und ihrer eigenen Position der Privilegierung in dieser Realität entgehen möchte“ (Lingen-Ali & Mecheril, 2017, S. 48).

Für Schulen bedeutet der kritische Umgang mit Diskriminierung und Rassismus einen sensiblen Blick auf die eigene Organisation sowie auf individuelle Betrachtungsweisen. Die Schule sollen danach streben, Veränderungsperspektiven, alternative Selbstbilder sowie Handlungsweisen zu erproben, von denen weniger Gewalt ausgeht (vgl. Lingen-Ali & Mecheril, 2017, S. 46f.).

Literatur

  • Ames, C. (1992). Classrooms: Goals, structures, and student motivation. Journal of Educational Psychology, 84, 261–271.
  • Braun, A., Buyse, K. & Syring, M. (2016). Unterricht innovieren: Perspektiven der Unterrichtsentwicklung im Zeichen der neuen Lernkultur. In E. Kiel & S. Weiß (Hrsg.), Schulentwicklungsprozesse gestalten - Theorie und Praxis von Schulinnovation (S. 185–212). Stuttgart: Kohlhammer.
  • Kiel (im Druck). Herausforderungen für eine neue Aufgabenkultur (im Kontext Inklusion).
  • Lingen-Ali, U. & Mecheril, P. (2017). Rassismuskritik als konstitutives Moment. In A. Polat (Hrsg.), Migration und Soziale Arbeit. Wissen, Haltung, Handlung (S. 37–50). Stuttgart: W. Kohlhammer Gmbh.
  • Massumi, M. & Fereidooni, K. (2017). Die rassismuskritische Professionalisierung von (angehenden) Lehrkräften – Die Notwendigkeit einer Kompetenzerweiterung. In S. Barsch, N. Glutsch & M. Massumi (Hrsg.), Diversity in der LehrerInnenausbildung. Internationale Dimensionen der Vielfalt in Forschung und Praxis (S. 51–76). Münster: Waxmann.
  • Mecheril, P. & Melter, C. (2010). Gewöhnliche Unterscheidungen. Wege aus dem Rassismus. In P. Mecheril, I. Dirim, M. Castro Varela, A. Kalpaka & C. Melter (Hrsg.), Bachelor | Master Migrationspädagogik (S. 150–178). Weinheim/Basel: Beltz.
⬅️ 3.2 Diversitätssensibler Unterricht  3.4 Exkurs: Intersektionelle Diskriminierung ➡️