Lehrstuhl für Schulpädagogik
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1.1 Interkulturelle Kompetenz in der Interkulturellen Pädagogik

1.1 Interkulturelle Kompetenz in der Interkulturellen Pädagogik

  1. Der Bedarf interkultureller Kompetenzentwicklung von Lehrkräften
  2. Interkulturelle Pädagogik und interkulturelle Kompetenz
  3. Kulturalisierung oder Psychologisierung
  4. Literatur

Der Bedarf interkultureller Kompetenzentwicklung von Lehrkräften

Da die schulischen Lern- und Lehrbedingungen zunehmend von gesellschaftlicher Vielfalt geprägt sind, hat die Kultusministerkonferenz 1996 erstmalig interkulturellen Kompetenzerwerb als Erziehungsziel ausgegeben: "Schule trägt zum Erwerb interkultureller Kompetenzen im Unterricht aller Fächer und durch außerunterrichtliche Aktivitäten bei (Kultusministerkonferenz, 2013, S. 4).

Interkulturelle Kompetenzentwicklung spielt in der Lehrerausbildung jedoch leider immer noch kaum eine Rolle (vgl. Brunner & Ivanova, 2015, S. 20; Doğmuş et al., 2016), was einen dringenden Nachbesserungsbedarf in Aus- und Fortbildung anzeigt. Auch in der aktuellen Studie "Lehrerbildung in der Einwanderungsgesellschaft" (Mercator Institut / Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration, 2016) fordern die Forscher/innen dringend Nachbesserungen in der Lehreraus- und -fortbildung für den Umgang mit sprachlicher und kultureller Vielfalt.

Beispiel: Lehrkräfte ohne Interkulturelle Kompetenz?!

In einer studentischen Forschungsarbeit aus 2016 meinten Referendariats-Lehrer, dass das, was man in der Ausbildung bzgl. interkultureller Kompetenz gelernt habe, "gegen Null" gehe und "eigentlich gar nicht vorhanden" (Grimmeisen, 2016, S. 11) sei. Die Lehrer wissen, dass laut Lehrplan interkulturelle Kompetenz vermittelt werden soll und berichten diesbezüglich auch von einzelnen, dezidierten Unterrichtsaktivitäten (z. B. aus der Anti-Rassismus-Didaktik). Generell aber beklagen sie selbstkritisch, dass Theorie und Vermittlung interkultureller Kompetenz in ihrer Ausbildung kaum eine Rolle spielten. Ausbildende Seminarlehrer hätten ihnen z. B. beigebracht, dass interkulturelle Kompetenz beim Sprachunterricht sozusagen automatisch passiere: "Sie haben da jetzt die Einheit in ihrem Spanischbuch - das ist ja an sich schon interkulturelle Kompetenz!" (ebd.). Die Unterrichtspraxis der Lehrer sieht konsequenterweise meist ähnlich aus. Interkulturelle Kompetenz vermittelt man meist als bloße Landeskunde ("Schottland in der sechsten Klasse, Irland in der siebten" (ebd., S. 13) oder als Folklore wie z. B. bei der Behandlung der "fiesta española" (ebd., S. 28) und setzt darauf, dass so ein Vergleich zur eigenen Kultur hergestellt wird.

Interkulturelle Pädagogik und interkulturelle Kompetenz

Aufgrund des Bedarfs für interkulturelle Kompetenzentwicklung hat sich die Forschung in den letzten Jahrzehnten durchaus darum bemüht, wie und worauf sich pädagogisches Handeln ausrichten soll. Hinsichtlich der Frage kultureller Vielfalt sind mehrere, relevante Forschungszweige und Begriffsdefinitionen entstanden. Sie alle ranken sich um die Frage, welche inhaltlichen und strukturellen Veränderungen notwendig sind, um unter der Rahmensetzung der sprachlich-kulturellen, nationalen und ethnischen Unterschiedlichkeit Deutschlands eine demokratische Erziehung und Bildung zu sichern (Gogolin & Krüger-Potratz, 2010, S. 104). Zu diesen pädagogischen Konzepten zählen z.B. die:

  • sogenannte Ausländerpädagogik (vgl. zusammenfassend z.B. Nieke, 2008)
  • Interkulturelle Pädagogik (u.a. Auernheimer, 2012; Gogolin & Krüger-Potratz, 2010)
  • Interkulturelle Bildung (u.a. Deutscher Verein zur Förderung der Lehrerinnen- und Lehrerfortbildung e.V., 2008)
  • Pädagogik der Vielfalt (Prengel, 2006)
  • Migrationspädagogik (Mecheril, 2010)
  • Antidiskriminierungspädagogik (Radtke, 1995)
  • Reflexive Interkulturelle Pädagogik (Hamburger, 2009)

Diese Forschungsrichtungen werden heute oft unter dem Sammelbegriff der interkulturellen Pädagogik zusammengefasst und haben sich seit etwa den 60-er Jahren des letzten Jahrhunderts bis heute entwickelt (vgl. Nieke, 2008, S. 13 f.). In allen finden sich Vorschläge, welche Haltungen, Einstellungen und Kompetenzen Lehrkräfte für ihr pädagogisches Handeln in einem multikulturellen Handlungsfeld ausprägen sollen. Diese überschneiden sich in ihrer generellen Perspektive, durch die Verbesserung des Handelns der Lehrkräfte zu gerechteren Bildungs- und Lebenschancen beizutragen, sind sich jedoch nicht immer einig darin, wie dies erreicht werden kann.

Kulturalisierung oder Psychologisierung

Für die von Lehrkräften geforderte "interkulturelle Kompetenz" gibt es kein wirklich einheitliches Verständnis. Einerseits mangelt es an empirischer Forschung, die anzeigen könnte, was genau diese für den schulischen Kontext ausmachen soll und wie und wodurch sie Lehrkräfte erwerben können (Bender-Szymanski, 2010, S. 201).

Andererseits wird innerhalb der interkulturellen Pädagogik auch konzeptuell gestritten, wie insbesondere mit der Vokabel "Kultur" innerhalb des Begriffs der Inter-"kulturellen" Kompetenz umgegangen werden soll. Gewarnt wird hier insbesondere vor der sogenannten "Kulturalisierung" (vgl. z.B. Militzer et al., 2002 , Mecheril, 2010, Hamburger, 2009) bei der für bestimmte gesellschaftliche Gruppen eine undifferenzierte Betonung angenommener kultureller Differenz postuliert wird, die "die eigentlichen Ursachen der Diskriminierung der zugewanderten Minderheiten in der sozialstrukturellen Marginalisierung" (Militzer et al., 2002, S. 18) bloß verschleiert.

Kulturalisierung und Kulturalismus
meint, dass die Verwendung des Begriffes "Kultur" oft (unterschwellig) mit der Durchsetzung eigener ideologischer oder strategischer Interessen verbunden ist. -Damit geht auch oft der Kulturalismus einher, bei dem in ungerechtfertigter Weise ethnische oder rassische Anteile eines Kulturbegriffes betont werden, obwohl andere Ursachen sachdienlicher wären. Diese Begriffe beziehen sich auf große kulturwissenschaftliche Diskursfelder, die die Kritik am Kulturbegriff in den letzten Jahrzehnten extensiv ausgeweitet haben. Diese widerspiegelt sich in der Kulturdefinition eines seiner bekanntesten Vertreters, des Ethnologen, Arjun Appadurai (1996, S. 13):
"Kultur ist eine allgegenwärtige Dimension des menschlichen Diskurses, die Differenzen ausbeutet, um differente Konzepte von Gruppenidentität zu generieren […] Kulturalismus ist die bewusste Mobilisierung kultureller Differenzen im Dienste nationaler oder transnationaler politischer Interessen".

Wenn "Kultur" zu sehr in den Fokus gerate, bestehe weiter die Gefahr, Tendenzen zur Diskriminierung sogar ungewollt zu verstärken, weil der Begriff Differenzlinien zwischen gesellschaftlicher Mehrheit-und Minderheitsgruppen erst konstruiere (ebd.). Auch verliere man die Gemeinsamkeiten gesellschaftlicher Gruppen, (Nieke 2008: S. 33) ebenso wie eine "wünschenswerte Selbstverständlichkeit" gesellschaftlicher Vielfalt (Hamburger 2009: S. 108), aus dem Blickfeld.

Ähnlich wie der Begriff Kultur, wird der Begriff der interkulturellen Kompetenz von vielen kritisch gesehen. Insbesondere warnt z.B. Radtke (1995), dass auch er nur dazu diene, eigentlich strukturell begründete Ungleichheiten des Bildungssystems zu verschleiern. Empfohlen wird hier eher, institutionelle, politische, rechtliche oder ökonomische Vorgaben in den Blick zu nehmen, anstatt sie durch Prozesse der Kulturalisierung und "Pädagogisierung" auszublenden (vgl. a. Bender-Szymanski, 2010, S. 202).

Pädagogisierung
meint die "Expansion pädagogischer Denk- und Handlungsformen in außerpädagogische Bereiche" (Höhne, 2013, S. 27), was bedenklich sein kann, wenn andere gesellschaftliche Wirkfaktoren bedeutender erscheinen.

Eine Gegenstimme im Diskurs bietet vor allem Auernheimer (2013). Auch wenn er die Gefahr der Kulturalisierung zur Kenntnis nimmt, so verweist er dennoch auf die Notwendigkeit, auch die Bedeutung kultureller Kontexte für schulisches Handeln ernstzunehmen. Wer diese ignoriere, laufe in die gegenläufige Gefahr der Kulturalisierung, nämlich die der "Psychologisierung", bei der abweichende oder befremdliche Kommunikationsmuster nur durch individuelle Eigenheiten des Gegenübers erklärt werden und die Bedeutung kultureller Prägungen völlig ausgeblendet wird (Auernheimer, 2013, S. 64).

Wird die skizzierte Kritik ernst genommen, ergibt sich hieraus, dass bestehende Vorschläge zur interkulturellen Kompetenzentwicklung aus verschiedenen und sich sogar teils widersprechenden Gründen stets kritisch hinterfragt werden sollten. Einfache Antworten auf die Frage nach der interkulturellen Kompetenz kann es hier aus Perspektive der interkulturellen Pädagogik nicht geben.

Literatur

  • Appadurai, A. (1996). Modernity at large: Cultural dimensions of globalization. Minneapolis: University of Minnesota Press.
  • Auernheimer, G. (2012). Einführung in die interkulturelle Pädagogik (7. Aufl.). Darmstadt: WBG.
  • Auernheimer, G. (Hrsg.). (2013). Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Bender-Szymanski, D. (2010). Interkulturelle Kompetenz bei Lehrerinnen und Lehrern aus der Sicht der empirischen Bildungsforschung. In G. Auernheimer (Hrsg.), Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität. Interkulturelle Studien (S. 201–228). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Brunner, M. & Ivanova, A. (2015). Praxishandbuch Interkulturelle Lehrer|innenbildung. Impulse – Methoden – Übungen. Schwalbach/Ts.: Debus Pädagogik.
  • Deutscher Verein zur Förderung der Lehrerinnen- und Lehrerfortbildung e.V. (DVLfB) (2008). Qualitätsentwicklung von Schulen – der Beitrag der Interkulturellen Bildung. Hildesheim: forum Lehrerfortbildung, 42.
  • Gogolin, I. & Krüger-Potratz, M. (2010). Einführung in die Interkulturelle Pädagogik (2. Aufl.). Opladen & Farmington Hills, MI: Verlag Barbara Budrich.
  • Grimmeisen, L. (2016): Interkulturelles Lernen im Schulunterricht. Unveröffentlichte Seminararbeit im Rahmen des Masterstudiengangs Interkulturelle Kommunikation, Ludwig-Maximilians-Universität München.
  • Hamburger, F. (2009). Abschied von der Interkulturellen Pädagogik. Plädoyer für einen Wandel sozialpädagogischer Konzepte. Weinheim u. München: Juventa Verlag.
  • Höhne, T. (2013). Pädagogisierung als Entgrenzung und Machtstrategie. Einige kritische Überlegungen zum erziehungswissenschaftlichen Pädagogisierungsdiskurs. In A. Schäfer & C. Thompson (Hrsg.), Pädagogisierung (S. 27–35). Wittenberg: Luther-Universität Halle-Wittenberg.
  • Kultusministerkonferenz (KMK) (1996). Empfehlung "Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule". Bonn: Beschluss der KMK vom 25. Oktober 1996.
  • Mecheril, P. (2010). Migrationspädagogik. Hinführung zu einer Perspektive. In S. Andresen, K. Hurrelmann, C. Palentien & W. Schröer (Hrsg.), Migrationspädagogik (S. 7–22). Weinheim und Basel: Beltz Verlag.
  • Mercator Institut / Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (2016). Lehrerbildung in der Einwanderungsgesellschaft. Qualifizierung für den Normalfall Vielfalt. Berlin: SVR GmbH.
  • Militzer, R., Fuchs, R., Demandewitz, H. & Houf, M. (2002): Der Vielfalt Raum geben. Interkulturelle Erziehung in Tageseinrichtungen für Kinder. Hrsg. v. Sozialpädagogisches Institut NRW – Landesinstitut für Kinder, Jugend und Familie. Münster: Votum Verlag.
  • Nieke, W. (2008). Interkulturelle Erziehung und Bildung. Wertorientierungen im Alltag. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Prengel, A. (Hrsg.). (2006). Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Radtke, F.-O. (1995). Interkulturelle Erziehung. Über die Gefahren eines pädagogisch halbierten Anti-Rassismus. Zeitschrift für Pädagogik, 41 (6), 853–864.

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