Fall 1.2 Impulse zur Falllösung: Mehrebenen-Interpretation
Fragestellung 1
Versuchen Sie nun, die Situation über die individuelle Ebene hinaus zu interpretieren und dabei vorhandene gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu berücksichtigen: Welche institutionellen Besonderheiten und rechtlichen Bestimmungen sind für die Situation u.U. relevant?
Relevante rechtliche Bedingungen
Als Lehrerin handelt Frau S. im Auftrag des deutschen Bildungssystems, welches seinerseits an das deutsche Rechtssystem gebunden ist. Aus juristischer Sicht werden im Fall von Gewalt gegen Kinder und Jugendliche zwei für Erziehung besonders relevante Rechtsnormen des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), nämlich das „Kindeswohl“ (BGB §1666) und das „Recht auf eine gewaltfreie Erziehung“ (BGB §1631) verletzt. Gleiches gilt für das im Kinder- und Jugendhilfegesetz festgeschriebene Recht jedes jungen Menschen auf „Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“ (SGB VIII §1). Strafrechtlich verstoßen die Eltern in der beschriebenen Situation gegen das Recht auf die körperliche Unversehrtheit (StGB §223 ff.) (vgl. auch Kiel & Pollak, 2011, S. 175 ff.).
Das Bayerische Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG) setzt eine Zusammenarbeit von Schulen mit Jugendämtern und Trägern der freien Jugendhilfe voraus. Wird bekannt, dass das Wohl einer Schülerin bzw. eines Schülers ernsthaft gefährdet oder beeinträchtigt ist und deshalb Maßnahmen der Jugendhilfe notwendig sind, sind die Schulen in der Pflicht, das zuständige Jugendamt zu benachrichtigen (vgl. Art. 31 BayEUG). Das wird im Artikel 1 des Gesetzes zur Kooperation und Information im Kinderschutz wie folgt konkretisiert (vgl. insbesondere §4 „Beratung und Übermittlung von Informationen durch Geheimnisträger bei Kindeswohlgefahrdung“): Werden Berufsgeheimnisträger (zum Beispiel Lehrkräfte, Sozialpädagoginnen/Sozialpädagogen, Ärztinnen/Ärzte, Psychologinnen/Psychologen) gewichtiger Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung bekannt, sollte zunächst die Situation mit dem betroffenen Kind oder Jugendlichen und Personensorgeberechtigten erörtert werden, um im nächsten Schritt gemeinsam mit den Erziehungsberechtigten auf die Inanspruchnahme von Hilfen hinzuwirken – wobei hier insbesondere darauf zu achten ist, dass der wirksame Schutz des Kindes oder des Jugendlichen nicht in Frage gestellt werden darf. Daher sollte beispielsweise bei Verdacht auf Kindesmisshandlung oder sexuellen Missbrauch in der Familie auf das klärende Elterngespräch verzichtet werden. In der beschriebenen Situation sollte die Lehrkraft die Möglichkeit eines Elterngesprächs mit der Schulleitung und einer diesbezüglich erfahrenen Fachkraft gemeinsam klären. Die Fachkraft unternimmt dabei die Gefährdungseinschätzung und erteilt die Befugnis zur Mitteilung und Datenübermittlung an das Jugendamt, wenn die Gefährdung nicht abgewendet werden kann (vgl. §8a Absatz 4 SGB VIII und §8b SGB VIII).
Präventionsmaßnahmen an Schulen
Präventiv kann die Schule in Kooperation mit Expertinnen und Experten Aufklärungsarbeit leisten. An vielen Schulen gibt es gute Ansatzpunkte für entsprechende Projekte, Unterrichts- und Elternmaterialien. Jedoch handelt es sich häufig um Einzelinitiativen, die noch weit von einer systematischen Verankerung des Themas in der Schule an sich entfernt sind und keine systematische Evaluation erfahren. Zudem gibt es bis dato keinen zentralisierten Austausch der Schulen über bezüglich der Präventionsarbeit bestehenden Erfahrungen. Das alles deutet auf Entwicklungsbedarfe, die von Seiten der Schule und der zuständigen institutionellen Stellen (Jugendamt, Bezirkssozialarbeit, freie Träger der Jugendhilfe) realisiert werden müssen.
- Hilfreiche Materialien zu Präventionsarbeit mit verschiedenen Zielgruppen finden Sie u.a. beim Deutschen Kinderschutzbund e.V., https://www.dksb.de.
Fragestellung 2
Welche weiteren Faktoren haben möglicherweise Einfluss auf die Problemsituation?
Funktionsweise des deutschen Bildungssystems
Leistungsdruck ist ein wirkungsvolles Instrument des Schulsystems. Durch die Notengebung übt die Institution Schule eine selektierende und segregierende (Verweisung der Kinder in Nachhilfeklassen, Verweisung auf eine niedrigere Schulform) Wirkung aus. Die entscheidende Bedeutung der Noten für den Bildungs- und damit oft auch den Lebensweg zwingt Familien – unabhängig vom jeweiligen kulturellen Hintergrund – zur Kontrolle der Leistungen ihrer Kinder. So gesehen lässt sich die übertriebene Leistungsorientierung der Eltern in diesem Fallbeispiel durchaus als eine Anpassung an das Selektionsprinzip der Schule ansehen. Welche Kontrollmechanismen in den Familien konkret eingesetzt und welche Sanktionen ggf. verhängt werden, hängt wiederum von soziokulturellen und soziopolitischen, finanziellen, rechtlichen und auch gänzlich individuellen Faktoren ab.
Soziokultureller Hintergrund der Beteiligten
Der Fall bietet folgende Schlüsselinformationen zu dem soziokulturellen Hintergrund der Familie: Die Eltern stammen aus Vietnam und wohnen bereits seit vielen Jahren in Deutschland; sie besitzen einen Lebensmittelladen und haben selbst keine akademische Ausbildung.
Vietnam als Herkunftsland wird häufig mit (Forderungen nach) hoher Disziplin und überdurchschnittlich guten Bildungsleistungen in Verbindung gebracht. Das bestätigen auch statistische Daten: Bundesweit besuchen etwa 59% der Schülerinnen und Schüler aus Vietnam ein Gymnasium. Damit sind sie erfolgreicher als deutsche Kinder und Jugendliche (43%) (vgl. Peters, 2011). Erklärt wird dieser Erfolg häufig mit der Zugehörigkeit der Familien zur vietnamesischen bzw. asiatischen (= von der konfuzianischen Mentalität geprägten) Kultur: „Nur Bildung führt weg vom Reisfeld“, lautet Konfuzius‘ Botschaft. Dass sich die „traditionellen“ Erziehungswerte der Familien durch eine starre, alters- und rollenbezogene Machtstruktur („Eltern haben a priori Recht“) auszeichnen, bestätigen auch viele Kinder vietnamstämmiger Migrantinnen und Migranten in Deutschland (wie man in entsprechenden Internet-Foren der vietnamesischen Community nachlesen kann).
Jedoch ist die Behauptung von Lehrkräften in dem beschriebenen Fall, Menschen aus Asien würden (sozusagen kulturell bedingt) generell zu Gewalt in der Erziehung neigen, stark pauschalisierend. Zum einen ist der verallgemeinerte Bezug auf „asiatische“ Kultur wissenschaftlich wie alltagsweltlich nicht haltbar, da die jeweiligen nationalkulturellen Prägungen, Lebensweisen und Familienstrukturen in den Ländern, die allgemein als „asiatisch“ bezeichnet werden, sehr unterschiedlich sind. Zum anderen sollte der Faktor ‚Migration‘ nicht vernachlässigt werden: Die Familie lebt nicht in ihrem Herkunftsland, sondern in Deutschland. Der Sozialisations- und Akkulturationsprozess von Migrantinnen und Migranten im Einwanderungsland ist komplex. Er wird bei weitem nicht nur durch ‚mitgebrachte‘ kulturelle Orientierungen aus dem Herkunftsland, sondern auch wesentlich durch die Lebenssituation im Einwanderungsland bestimmt (sozialer Status, Arbeitsbedingungen bzw. Arbeitslosigkeit, finanzielle Lage, Wohnort, evtl. vorhandene räumliche Segregation, Pflege von Familien- und Freundschaftsbeziehungen etc.). Besonders hervorzuheben ist die Stellung der Familien im Sozialgefüge bzw. ein häufig gesellschaftlich marginalisierte Status: „Aus ihren Erfahrungen, immer am Rande der Gesellschaft zu sein, möchten sie, dass sich ihre Kinder voll auf die Bildung konzentrieren und alle Chancen nutzen, damit bestmögliche Leistungen erreicht werden können“, - so die Beobachtung einer Sozialarbeiterin (vgl. Dokumentation des Fachtags „Lebenssituation von jungen Vietnamesinnen und Vietnamesen in ihren Familien“, 2007, S. 19). Auch werden überdurchschnittlich hohe Bildungsleistungen von Kindern und Jugendlichen von vielen Eltern als eine Art Versicherung gegen die rassistische Diskriminierung auf dem Bildungs- und Arbeitsmarkt wahrgenommen: „Wenn unsere Kinder nicht besser sind als die anderen, werden sie Nachteile haben" (vgl. Cornelius, 2010). Eltern verweisen hier auf die Tatsache, dass Bewerberinnen und Bewerber mit einem ausländisch klingenden Namen deutlich geringere Chancen haben, zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden (vgl. SVR, 2014). Schließlich ist jede Familie durch individuelle Voraussetzungen mit Blick auf flexibles Denken, Selbstreflexion und Modifikation von gewohnten Handlungsroutinen charakterisiert.
Leben in einer Leistungsgesellschaft
Viele Gesellschaftssysteme sind stark erfolgs- und leistungsorientiert. Dadurch eröffnen sie ihren Mitgliedern viele Möglichkeiten – und zwingen sie gleichzeitig zum harten Wettbewerb. Auch Schülerinnen und Schüler sind in eine Logik der permanenten Selbstersteigerung (vgl. Messerschmidt, 2014) – immer kompetenter, wettbewerbsfähiger und erfolgreicher sein – eingebunden und die Eltern sehen sich gezwungen, ihren Kindern Wettbewerbsvorteile zu ermöglichen. Dementsprechend agieren die Eltern der Schülerin in dem beschriebenen Fall gewissermaßen im Sinne einer Leistungsgesellschaft, da ihnen bewusst ist, dass, sofern nicht die finanziellen Mittel vorhanden sind, Erfolg meist nur durch strenge Disziplin und Fleiß erreicht werden kann.
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