Fall 1.3 Impulse zur Falllösung: Handlungsoptionen
Welche Handlungsoptionen wären in der Situation möglich? Welche Fragen, Schwierigkeiten, Widersprüche etc. können sich ergeben? Beziehen Sie die Ergebnisse der Interpretation im Pkt. 1) und 2) in Ihre Überlegungen mit ein.
Handlungsschritte für die Lehrkräfte
Obgleich den Eltern bei der Beurteilung des Kindeswohls ein großer Raum zugestanden wird, sind „körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen, psychische Beeinträchtigungen und andere entwürdigende Maßnahmen“ (BGB §1631) unzulässig und dürfen von der Schule nicht toleriert werden. Da das Wohl des Kindes einen Grundsatz für die pädagogische Arbeit bildet, ist die Schule verpflichtet, den Schutz des Kindes vor Gewalt sicherzustellen. Das bedeutet, dass sämtliche Vorfälle, Beobachtungen und Verdachtsmomente dokumentiert werden müssen. Intervention und Prävention sollten dabei nicht nur in der Verantwortung einer einzelnen Lehrkraft liegen, dies erfordert die Kooperation vieler auch unter Einbezug von Fachkräften.
Bei wahrgenommener oder vermuteter Kindeswohlgefährdung sind daher von einer Lehrkraft deshalb folgende Handlungsschritte zu unternehmen:
- Benachrichtigung der Schulleitung und gemeinsame Klärung der gewichtigen Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung.
- Ggf. Beratung und Klärung der Situation mit weiteren Expertinnen und Experten, zum Beispiel einer diesbezüglich erfahrenen Fachkraft (vgl. SGB VIII §8a). Diese unterstützt bei der Einschätzung möglicher Gefährdungssituationen, klärt darüber auf, ob bzw. inwiefern Erziehungsberechtigte und Kinder bzw. Jugendliche selbst bei der Gefährdungseinschätzung einbezogen werden und gibt Tipps zur Durchführung schwieriger Gespräche (mit den Eltern, Erziehungsberechtigten, den Kindern und Jugendlichen selbst). Lehrkräfte werden zudem über mögliche Hilfen für Kinder und Jugendliche und ihre Familien informiert sowie darüber, wann die Bezirkssozialarbeit und das Jugendamt eingeschaltet werden müssen. Hierbei ist zu beachten, dass eine Lehrkraft keine eigenständige Ermittlung und Begutachtung von Sachverhalten vornimmt und auch nicht bei Gesprächen mit Erziehungsberechtigten oder Kindern anwesend ist.
- Kann der wirksame Schutz des Kindes oder Jugendlichen gewährleistet werden, so findet ein Gespräch mit dem Kind bzw. Jugendlichen und seinen Erziehungsberechtigten statt, in dem die Hilfsoptionen zur Abwendung der Gefährdungsrisiken gemeinsam geklärt werden. Da in dem oben geschilderten Fall akute familiäre Gewalt vorliegt, macht es ggf. Sinn, auf das klärende Elterngespräch zu verzichten.
- Je nachdem, ob die Eltern in die Klärung der Situation einbezogen worden sind oder nicht, werden entweder Hilfen zur Abwendung des Gefährdungsrisikos bei den Eltern veranlasst oder andere zuständige Stellen durch das Jugendamt (ggf. auch die Inobhutnahme) eingeschaltet.
Das Ergebnis der jeweiligen Schritte ist unverzüglich und schriftlich zu dokumentieren. Entsprechende Vorlagen finden sich im Internet bzw. können bei diesbezüglichen Fachkräften erfragt werden.
Für die Schule besteht bei Kindesmisshandlung weder die Verpflichtung, die Polizei einzuschalten, noch den Fall anzuzeigen. Gemäß §138 Strafgesetzbuch (StGB) müssen nur bestimmte schwere Verbrechen (zum Beispiel Menschenhandel oder Mord) bei Gefahr im Verzug angezeigt werden. Körperverletzungsdelikte fallen nicht darunter. Die Schulleitung kann zwar selbständig eine Strafanzeige erstatten – sinnvoller wäre jedoch in diesem konkreten Fall, sich zunächst mit Fachkräften und/oder dem Jugendamt abzusprechen. Das Jugendamt kann darüber entscheiden, ob die Polizei informiert und eine Strafanzeige gegen die Eltern erstattet werden muss.
Weiterführende Informationen finden Sie:
- auf den Seiten von Zentrum Bayern Familie und Soziales – Bayerisches Landesjugendamt (2012): http://www.blja.bayern.de/service/bibliothek/fachliche-empfehlungen/schutzauftrag8a.php
- in der „Handreichung zur Förderung des Erkennens von Kindesmisshandlung und des adäquaten Umgangs mit Verdachtsfällen“ der KMK: http://gewaltpraevention.bildung-rp.de/fileadmin/user_upload/oekonomische.bildung-rp.de/Gewaltpraevention/Handreichung-Kindesmisshandlung.pdf
Prävention
Damit Kindesmisshandlungen vermieden oder zumindest frühzeitig erkannt werden, sollten folgende Maßnahmen auf institutioneller Ebene dauerhaft implementiert, evaluiert und ggf. optimiert werden:
- Vernetzungen und Kooperationen im Bereich Kinderschutz: Auf kommunaler Ebene haben sich sogenannte soziale Frühwarnsysteme bewährt, die als systematisch und präventiv ausgerichtete Netzwerke der Kinder-, Jugend-, Familien- und Gesundheitshilfe agieren. Mit ihnen können Belastungssituationen von Familien früh erkannt werden. Auch eine Beratung kann in Anspruch genommen werden. Mögliche Ansprechpartnerinnen und -partner finden Sie auf den Seiten der Landeshauptstadt München: https://www.muenchen.de/rathaus/Stadtverwaltung/Sozialreferat/Jugendamt/Kinderschutz.html.
- Organisierte Fortbildungen für Lehrkräfte zum Thema Kindeswohl (zum Beispiel im Rahmen einer Lehrerkonferenz oder eines Fortbildungstages), die die Diagnostik der Kindeswohlverletzungen und das Vorgehen in Verdachtsfällen erläutern. In der Regel können Jugendämter entsprechende Fachkräfte vermitteln. Auch Fachkräfte der regionalen Vereine gegen Kindesmisshandlung, Kinderärzte, Psychologinnen und Psychologen oder Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der polizeilichen Kriminalprävention könnten geeignete Ansprechpartnerinnen und -partner sein.
- (Aufklärungs-)angebote für Schülerinnen und Schüler, zum Beispiel im Rahmen eines Klassenleitungstages (in Kooperation mit relevanten Kooperationspartnerinnen und -partnern und Expertinnen bzw. Experten).
- Niederschwellige Angebote zur Stärkung familiärer Ressourcen, zum Beispiel im Rahmen von Elternabenden, Elternkompetenztrainings usw. Zu beachten ist, dass der Zugang zu diesen Angeboten soweit möglich nicht über das Thema Vernachlässigung oder Misshandlung erfolgen sollte. Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe können Schulen bei der Organisation und Durchführung unterstützen. Im Raum München sei insbesondere auch auf die PIBS (Psychologische Information und Beratung für Schülerinnen und Schüler, Eltern und Lehrkräfte) hingewiesen, die kostenlose Beratung und Hilfen für Kinder und Jugendliche, ihre Eltern, aber auch für die Lehrkräfte in Krisensituationen anbieten: https://www.ebz-muenchen.de/pibs/.
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