Fall 3.2 Impulse zur Falllösung: Mehrebenen-Interpretation

Die Kurzexpertise des Deutschen Jugendinstituts verweist darauf, dass „ein Drittel der in Deutschland lebenden Muslime ihre Religion auch praktizieren und sich in ihrem Alltag darauf beziehen, während ein Drittel deutlich säkularisiert ist. Zwischen diesen Polen bewegt sich ein ‚unentschiedenes‘ Drittel, das gelegentlich muslimisch-religiöse Praktiken lebt und spezifische Traditionen beibehalten hat, im Alltag aber weitgehend säkularisiert ist“ (Thiessen, 2008, S. 4). Somit lassen sich deutliche Parallelen zur Ausübung des christlichen Glaubens in Deutschlands ziehen (oft geht man einmal im Jahr in die Kirche, zum Beispiel zu Weihnachten, ansonsten wird jedoch kein großer Wert auf die eigene Religion gelegt).

Religionszugehörigkeit alleine reicht als Merkmal einer Gruppenbeschreibung nicht aus, „da muslimische Familien äußerst divers sind, sie sich nach Schicht, Bildungsgrad, Herkunftsregion, Aufenthaltsdauer in Deutschland, Einwanderungsgeneration und praktizierter Religiosität im Alltag erheblich unterscheiden“ (Thiessen, 2008, S. 6). Dementsprechend können auch ‚islamische‘ Rituale, Werte und Alltagspraktiken unterschiedlich sein, da sie zum einen in vielfältigen regionalen Traditionen wurzeln und zum anderen je nach Schichtzugehörigkeit variieren (vgl. ebd., S. 5). „Meist können auch muslimische Familien selbst kaum mehr differenzieren zwischen regionalspezifisch-traditionellen und muslimischen Praktiken. Entsprechend schwierig gestaltet sich die Analyse muslimischer Alltagspraktiken und religiöser Haltungen. Häufig werden bestimmte Praktiken als islamisch bezeichnet, sie haben jedoch nichts mit der Religion Islam im engeren Sinne zu tun, sondern stellen eine spezifische – etwa anatolische – Tradition dar. Ebenso wäre die Frage nach typischen Mustern und Wertorientierungen christlicher Familien aufgrund ihrer Heterogenität kaum zu beantworten“ (ebd., S. 5).

Großen Einfluss haben darüber hinaus milieuspezifische Faktoren: „Hintergrund ist, dass sowohl in islamischen als auch in ländlichen Kulturen ebenso wie in unteren sozialen Milieus traditionelle Werthaltungen dominieren. Sie sind besonders verfestigt, wenn sich untere soziale Milieus und muslimischer Migrationshintergrund überschneiden. […] Die Organisation der großfamiliären Gemeinschaft beruht auf eindeutigen und arbeitsteiligen Mustern, die insbesondere hinsichtlich Geschlecht und Alter bezogen sind“ (Ebd., S. 5f.). Selbstverständlich können auch hier Abweichungen von dem geschilderten Muster vorkommen, da familiäre Rollenmuster nicht starr, sondern flexibel und veränderbar sind.

Hier ist insbesondere auf die negativen Folgen der räumlichen und sozialen Trennung der Bevölkerung hinzuweisen. Die vermehrt festzustellenden Rückzugstendenzen muslimischer Familien in ethnisch und religiös homogene Umgebungen wurzeln häufig in „Erfahrungen des Scheiterns am Erwerbs- und Ausbildungsmarkt sowie in alltäglichen Interaktionen in der Mehrheitsgesellschaft, die den Fremdheitscharakter betonen sowie Gefühle von Minderwertigkeit entstehen lassen“ (Thiessen, 2008, S. 6). Gleichzeitig lässt sich auch ein Homogenisierungsdruck innerhalb der Gemeinschaften feststellen. Die Kombination der oben genannten Faktoren führt häufig zu einer „Re-Traditionalisierung mit einem bewussten Ausstieg aus der Mehrheitsgesellschaft, teilweise mit fundamentalistischer (im Sinne islam-politischer) Orientierung, was auch innerhalb der Gemeinschaften teilweise mit Sorge zur Kenntnis genommen wird“ (Thiesen, 2008).

Die Expertise des Deutschen Jugendinstituts (Thiessen, 2008) verweist auf einen Mangel von Kontakt und Austausch zwischen muslimischen und nichtmuslimischen Familien, welcher vor allem durch die oben beschriebene soziale Segregation hervorgerufen wird. Hierdurch können auf beiden Seiten verzerrte Bilder entstehen, beispielsweise (auf nichtmuslimischer Seite) von der allgemeinen Bildungsferne muslimischer Familien und Frauenunterdrückung oder (auf der muslimischen Seite) von der geringen Bedeutung der Familie im Leben der Nichtmuslime (vgl. Thiessen, 2008, S. 6). Durch Begegnungen und Austausch über individuelle und kollektive Lebenswelten könnte ein genereller Wertekonsens sichtbar werden. Aus unserer Sicht wäre es jedoch sinnvoll, solche Begegnungsanlässe nicht unter dem Motto eines „Kennenlernens fremder Kulturen“ stattfinden zu lassen, um Kulturalisierungen und einfachen Kausalketten keinen Vorschub zu leisten. Vielmehr soll die Individualität der teilnehmenden Personen, mitsamt dazugehörenden Mehrfachzugehörigkeiten, im Mittelpunkt solcher Begegnungen stehen (vgl. Kalpaka & Mecheril, 2010; Mecheril, 2003).