Fall 1.1 Impulse zur Falllösung: Perspektivische Interpretation

Herr H. orientiert sich in seiner Auffassung wahrscheinlich an naturwissenschaftlichen Kenntnissen und nicht an religiösen Kriterien. Daher fällt es ihm schwer, die Frage zu verstehen bzw. irritiert ihn diese. Seine Verlegenheit könnte andeuten, dass er unsicher ist, wie er spontan auf die Diskrepanz zwischen naturwissenschaftlicher Evolutionstheorie und religiöser Schöpfungsgeschichte reagieren soll, ohne sich dabei achtlos gegenüber der Konfession seiner Schülerinnen zu äußern.

Herr H. rechnet offenbar nicht damit, während seines Unterrichts eine komplett vom Fach abweichende Frage gestellt zu bekommen: Er wird mit einer Frage zur Abstammung des Menschen konfrontiert. Als Mathematiklehrer sieht er es vermutlich nicht als seinen Fachbereich und seine Aufgabe an, die Frage der Schülerin fachlich und oder zumindest didaktisch korrekt aufzugreifen. Zudem wird er sich als Lehrer einer naturwissenschaftlichen Disziplin vermutlich eher an wissenschaftlichen Kenntnissen orientieren und nicht an einer religiösen Schöpfungsgeschichte. Zusätzlich muss er spontan abschätzen, ob er während seines Unterrichts Zeit einräumen kann, ein fachfremdes Thema zu behandeln, ohne dabei in Verzug mit seinem eigenen Unterrichtstoff zu geraten.

Durch die zunehmende religiöse Vielfalt im Klassenzimmer treffen verschiedene Weltbilder aufeinander. Es ist möglich, dass Herr H. von einem gleichen bzw. möglichst ähnlichen Wissensstand seiner Schülerinnen und Schüler ausgeht. Er nimmt an, dass alle Schülerinnen und Schüler seiner Klasse ein ähnliches Weltbild haben. Durch das Interesse zweier Schülerinnen bezüglich eines Unterrichtsgegenstandes, die Evolutionstheorie, wird ihm bewusst, dass nicht alle Schülerinnen und Schüler ein konformes Weltbild teilen, also von der Entwicklung des Menschen nach Charles Darwin ausgehen, sondern von der Schöpfung der Welt durch Gott.

Die Schülerin, die die Frage gestellt hat, wurde an diesem Tag offensichtlich in der Schule mit Wissensbeständen konfrontiert, die ihr völlig neu sind bzw. ihrem bisherigen Wissen deutlich widersprechen. Möglicherweise war im Rahmen des PCB-Unterrichts nicht genügend Raum zur Diskussion und zum Fragen – oder die Schülerin musste die neuen Erkenntnisse erst verarbeiten. Als ihr diese dann nicht mehr aus ihrem Kopf gingen, sah sie sich im Mathematikunterricht dazu gezwungen, noch weitere Erfahrungen bzw. neue Informationen durch Herrn H. einzuholen.

Darüber hinaus kann die Tatsache, dass die Schülerin ihre Frage nicht unmittelbar an die ‚zuständige‘ PCB-Lehrkraft gerichtet hat, sondern die ‚fachfremde‘ Frage gegenüber Herrn H. geäußert hat, auch als ein Zeichen des Vertrauens vonseiten der Schülerin in die sozialen oder auch fachlichen Kompetenzen des Mathematiklehrers gewertet werden.

Dem Jugendalter werden verschiedene Entwicklungsaufgaben zugeschrieben, für die verschiedene Sozialisationsinstanzen eine fundamentale Rolle spielen. Unter anderem gilt es, eine eigene Identität zu entwickeln. Dazu gehört auch, sich mit grundlegenden Werthaltungen und Ansichten auseinanderzusetzen und eine eigene Position zu bestimmen. Auf der Suche nach einer eigenen Vorstellung über die Welt und die Menschheit greifen Schülerinnen und Schüler auf wichtige Wissensquellen bzw. persönlich bedeutende Vorbilder aus dem sozialen Umfeld, wie beispielsweise Eltern und Lehrkräfte, zurück. Umso mehr können dann divergierenden Vorstellungen auf Seiten von Eltern und Lehrkräften verwirrend sein und zunächst zu Ratlosigkeit führen.

Die außerschulische Lebenswelt und das darin erworbene Vorwissen haben großen Einfluss auf den Erwerb von Wissen im Unterricht. Ein Teil der Kinder und Jugendlichen wächst in einer religiös geprägten Umwelt auf und erwirbt daher eben solche Vorstellungen. Andere werden in ihrer Familie an nicht religiös ausgestaltete Weltbilder herangeführt. Biologische, wissenschaftliche Deutungen können Teil der familiären Sozialisation sein, häufig begegnen diese Kindern und Jugendlichen aber erst im schulischen Unterricht. Mit dieser Dynamik setzt sich beispielsweise das sogenannte Modell der Didaktischen Rekonstruktion auseinander (vgl. Illner, 1999).

Die beiden Schülerinnen im vorliegenden Beispiel sind in ihrem Elternhaus offenbar mit bestimmten Werten und Einstellungen sozialisiert worden. Für viele Familien ist ihre religiöse Weltanschauung eine wichtige Verbindung zu ihrer sozialen Gemeinschaft und Teil der umfassenden Identität, den sie an ihre Kinder weitergeben möchten. Herrscht eine Diskrepanz zwischen der Weltanschauung der Familie und dem in der Schule vertretenen Weltbild, so ergibt sich für ‚betroffene‘ Kinder die Herausforderung, diese verschiedenen Positionen für sich in Einklang bringen zu müssen und einen gangbaren Weg zu finden, um weder mit der Familie noch der Schule in Konflikt zu geraten.

Eine große Zahl konfessioneller privater Schulen lehrt die Schöpfungstheorie entlang einer kreationistischen Weltanschauung (vgl. Kramer, 2011). Ein Wechsel einer Schülerin oder eines Schülers mit einem solchen Bildungs- bzw. Weltanschauungshintergrund auf eine öffentliche Schule birgt dann Konfliktpotential, denn öffentliche Schulen sind dem Lehrplan verpflichtet, der an wissenschaftlichen, nicht religiösen Erkenntnissen ausgerichtet ist.