Lehrstuhl für Schulpädagogik
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6.2 Herausforderungen der Zusammenarbeit mit Eltern mit Migrationshintergrund

Eltern mit Migrationshintergrund haben über alle soziale Milieus hinweg ein großes Interesse am Bildungserfolg ihrer Kinder (vgl. Barz u.a., 2015). Entsprechend investieren sie viel Zeit, um ihre Kinder beim Lernen zu unterstützen oder um regelmäßig an Elternabenden teilzunehmen.

Dennoch aber gestaltet sich Elternzusammenarbeit aus Sicht der Lehrkräfte manchmal schwierig, weil sie strukturelle Überforderungen oder einen Mangel an zeitlichen Ressourcen wahrnehmen. Die prinzipiell größten Schwierigkeiten ergeben sich, allgemein gesagt, aus der mangelnden Deckungsgleichheit der Erwartungen und Vorstellungen über die "richtige" Erziehung bei den Lehrkräften und den Eltern (vgl. Azun, 2017, S. 243).

Eltern gelten bei Lehrkräften generell oft dann als schwierig, wenn sie nach Sacher (2017, S. 20 ff.) zu diesen Gruppen zählen:

  • Eltern, die Lehrkräfte mit Forderungen und Wünschen bedrängen,
  • Eltern, die sich entziehen und den Kontakt meiden ("Submarines"),
  • Eltern, die die Schulgemeinschaft stören (z.B. ideologisch oder missionarisch orientierte Eltern),
  • Eltern, die ein unangemessenes Verhältnis zu ihren Kindern haben (z.B. überbehütende "Helikopter"-Eltern).

Solche Klassifizierungen sind nicht unproblematisch, was sich am Beispiel der "Submarines" zeigen lässt: bei deren "schwerer Erreichbarkeit" handelt es sich nicht um einen objektiven Bestandteil eines Sozialcharakters o. ä. Eine Lehrkraft oder gar Schule mag Eltern z. B. bereits nach ein, zwei gescheiterten Kontaktversuchen in diese Gruppe verorten, eine andere erst nach vielen Versuchen. Auch stellt sich oft die Frage, ob die Kontaktaufnahme seitens der Schule effektiv und angemessen erfolgt ist. Immerhin aber verweist die Aufstellung bereits darauf, dass Lehrkräfte alle möglichen Gruppen von Eltern und den Umgang mit ihnen oft als problematisch wahrnehmen.

Hinsichtlich der Familien mit Migrationshintergrund ergeben sich aus Perspektive der Lehrkräfte oft spezifische Herausforderungen. Manche Schwierigkeiten und Hürden betreffen nur bestimmte Migrantengruppen, manche treten auch häufiger auf. Typische Beispiele finden sich in der folgenden Auflistung (vgl. Azun, 2017; Barz u.a., 2015; Zenk & Gündoğdu, 2011, S. 70 ff.):

  • Manchen Eltern mit Migrationshintergrund ist das deutsche Bildungssystem oft nur unzureichend bekannt oder verständlich. Was eine Realschule oder ein Gymnasium in aller Konsequenz für das Kind und seine Möglichkeiten bedeuten, ist oft ebenso wenig bekannt wie eine duale Ausbildung. Unrealistische Erwartungen an die Schule hinsichtlich des möglichen Bildungserfolgs können die Folge sein.
  • Das deutsche Bildungssystem verlangt im Normalfall eine aktive Rolle der Eltern, sei es, dass sie selbst das Gespräch mit Schule und Lehrkräften suchen oder sich gar im Rahmen einer ausgedehnten Erziehungs- und Bildungspartnerschaft als gleichwertige Partner/innen aktiv an allen möglichen schulischen Angelegenheiten einbringen. Bei migrantischen Eltern scheint das manchmal weniger der Fall zu sein. Eine Studie von Sacher (2008) an Schulen mit niedrigem Migrantenanteil zeigt etwa, dass sie insbesondere informelle Einzelgespräche mit den Lehrkräften oder auch Kontakte zu den Elternvertreter/innen eher scheuten. Neben sprachlichen Unsicherheiten, dem Gefühl, eventuell auf diskriminierendes Verhalten zu stoßen, können hierfür auch kulturelle Orientierungen dafür verantwortlich zeichnen. Das türkische Sprichwort "Eti senin, kemiği benim" ("Du bekommst das Fleisch, ich behalte die Knochen.") drückt z. B. die Haltung aus, dass der Lehrkraft die volle Erziehungsgewalt über ein Kind überlassen wird (vgl. a. Toprak 2004, S. 124).
  • Diskriminierungserfahrungen bestimmen oft das Selbstverständnis migrantischer Milieus und als Konsequenz herrscht manchmal ein Misstrauen gegenüber einer als "deutsch" empfundenen Lebenswelt, zu der auch die Schule gehört.
  • Manche migrantische Eltern haben Ängste, dass Schule und Unterricht den Schüler/innen Inhalte vermittelt, die nicht zu eigenen Auffassungen und Weltbildern passen (z.B. über Sexualität).
  • Manche migrantische Eltern erwarten von Lehrkräften ein vergleichsweise höheres Maß an Disziplin und Ordnung (vgl. a. Toprak 2004, S. 125).
  • Vieles spricht dafür, dass gerade Eltern mit Migrationshintergrund oft nicht nur einen qualitativ hochwertigen Unterricht erwarten, sondern Lehrkräfte nicht selten auch als verantwortlich dafür sehen, sich um die persönlichen und familiären Angelegenheiten ihrer Schüler/innen zu kümmern und ihnen auch ein moralisches Vorbild zu sein (Koptelzewa, 2011; vgl. a. Barz u.a., 2015: S. 9).
  • Eltern aus manchen migrantischen Milieus, nehmen Entscheidungen von Schule und Lehrkräften einfach hin und zweifeln sie nicht an. Z.T. sind hierfür bestimmte, kulturelle Orientierungen verantwortlich, die das Handeln von Autoritäten nicht hinterfragen (Der Lehrer hat immer Recht") (vgl. a. Sterzenbach, G. & Moosmüller, A., 2000, S. 132), z. T. auch resignative Einstellungen, die sich im Lauf der Migration ergeben ("Es ist normal, dass mein Kind in Deutschland nur so weit kommen kann").
  • Manche Eltern weisen fehlende oder schlechte Deutschkenntnisse auf, was die Kommunikation auf allen Seiten einschränkt und erschwert. Dies führt nicht einfach nur zu einem schlechteren Verstehen auf Seiten der Eltern, sondern hat auch Auswirkung auf deren Selbstwert. Ein gehemmtes Auftreten gegenüber Lehrkräften kann die Folge sein (vgl. a. Gomolla, 2009: S. 30).

Dreht man die Perspektive und fragt, welche Herausforderungen aus Sicht der migrantischen Eltern bestehen, so werden zwar z. T. auch o. g. Punkte angesprochen. Generell gesagt, betonen Eltern mit Migrationshintergrund jedoch eher, dass das größte Problem für die Bildungspartizipation ihrer Nachkommen jedoch eher darin bestehe, dass der eigene Migrationshintergrund von Schule und Lehrkräften oftmals nur in defizitärer Weise wahrgenommen wird (vgl. Barz u.a., 2015, S. 5). Potenziale der Schüler/innen mit Migrationshintergrund, wie z.B. ihre Mehrsprachigkeit, ihre ausgeprägte Leistungsorientierung oder hohe Flexibilität würden zu wenig anerkannt oder gefördert. Die Eltern dürften damit durchaus richtigliegen, wie aktuelle Forschungen zeigen. So zeige der Forschungsstand z.B. nach Gomolla et al., 2016, S. 14), dass migrantische Schüler/innen unter vielerlei benachteiligenden institutionellen Rahmenbedingungen und pädagogischen Interaktionen und Prozessen zu leiden haben. Konsequenter Weise erhoffen sich Eltern mit Migrationshintergrund von Schule und Lehrkräften typischerweise Maßnahmen, die auf eine größere Chancengleichheit ihrer Kinder abzielen:

In der Bildungsstudie von Barz u.a. (2015) wünschen sich Eltern mit Migrationshintergrund z. B.

  • Strukturelle Maßnahmen wie die Abschaffung des dreigliedrigen Schulsystems, Klassenverkleinerungen, keine Segregation von Schulklassen, Ganztagsschulen, Schuluniformen (gegen Diskriminierung), mehr Lehrkräfte mit Migrationshintergrund,
  • Didaktische Maßnahmen wie z.B. Unterricht in der Herkunftssprache, Mehr heterogene Lerngruppen, zusätzliche Angebote der kulturellen Bildung und mehr Sport, Schulen mit religiösen Schwerpunkten (christlich) oder auch islamischer Religionsunterricht als reguläres Schulfach,
  • Fördermaßnahmen wie die gezielte Sprachförderung, Talentförderung
  • Beratungsmaßnahmen z. B. zu speziellen Förder- und Stipendienprogrammen für Schüler mit Migrationshintergrund,
  • Maßnahmen der Elternzusammenarbeit z.B. mehr Informationsangebote, mehr Elternpartizipation und Empowerment.
  • Einen besonders oft betonten Schlüssel zur Chancengleichheit sehen viele Eltern in der der Verbesserung der interkulturellen Situation. Elternbedürfnisse sollten gehört und ernst genommen werden. Offenheit und Wertschätzung für kulturelle Vielfalt sollten wichtige schulische Werte darstellen. Es sollte mehr interkulturellen Austausch geben und vor allem sollten Lehrkräfte mit höherer interkultureller Kompetenz ausgestattet sein.
Checkliste - Erwartungen von Eltern mit Migrationshintergrund an Schule und Lehrer

  • Lehrkräfte stehen im Spannungsfeld zwischen neutraler Wissensvermittlung und aktiver Erziehungsverantwortung
  • Eltern mit Migrationshintergrund erwarten von Lehrkräften oft ein Bildungsengagement, das über die reine Wissensvermittlung hinausgeht
  • Die Defizitorientierung von Lehrkräften und Schule wird von Migrant/innen als problematisch wahrgenommen
  • Schule sollte aus Sicht von Eltern mit Migrationshintergrund idealer Weise nicht nur ein Ort der erfolgreichen Wissensvermittlung sein, sondern auch gesellschaftliche Chancengleichheit der Kinder sichern
  • Interkulturelle Kompetenz der Lehrkräfte sehen viele Eltern mit Migrationshintergrund als besonders wichtig an

Literatur

  • Barz, H., Barth, K., Cerci-Thoms, M., Dereköy, Z., Först, M., Le, T. T. & Mitchnik, I. (2015). Große Vielfalt, weniger Chancen. Eine Studie über die Bildungserfahrungen und Bildungsziele von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland. Verfügbar unter https://www.stiftung-mercator.de/media/downloads/3_Publikationen/Barz_Heiner_et_al_Grosse_Vielfalt_weniger_Chancen_Abschlusspublikation.pdf [02.07.2020].
  • Gomolla, M. (2009). Elternbeteiligung in der Schule. In S. Fürstenau & M. Gomolla (Hrsg.), Migration und schulischer Wandel: Elternbeteiligung (S. 21–49). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Gomolla, M., Schwendowius, D. & Kollender, E. (2016). Qualitätsentwicklung von Schulen in der Einwanderungsgesellschaft: Evaluation der Lehrerfortbildung zur interkulturellen Koordination (2012-2014). Hamburger Beiträge zur Erziehungs- und Sozialwissenschaft.
  • Koptelzewa, G. (2011). Interkulturalität in der Schule. In J. Roth & C. Köck (Hrsg.), Culture Communication Skills – Interkulturelle Kompetenz. Handbuch für die Erwachsenenbildung (2. Aufl., S. 108–119). München: Bayerischer Volkshochschulverband 2011.
  • OECD (2001). Lernen für das Leben: Erste Ergebnisse der internationalen Schulleistungsstudie PISA 2000. Paris: OECD.
  • Sacher, W. (2008). Elternarbeit. Gestaltungsmöglichkeiten und Grundlagen für alle Schularten. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
  • Sacher, W. (2017). Kooperation auf Augenhöhe. Elternarbeit neu denken und gestalten. In B. Dittmer-Glaubig & S. Rieger (Hrsg.), "W" wie Werteerziehung in der Schule. Unser Miteinander wertschätzend gestalten. (Praxisheft) (S. 17–24). München: Domino-Verlag.
  • Stange, W. (2012). Erziehungs- und Bildungspartnerschaften. Grundlagen, Strukturen, Begründungen. In W. Stange, R. Krüger, A. Henschel & C. Schmitt (Hrsg.), Erziehungs- und Bildungspartnerschaften. Grundlagen und Strukturen von Elternarbeit. Band 1 (S. 12–39). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Sterzenbach, G. & Moosmüller, A. (2000). Kulturkontakt – Kulturkonflikt in der Schule. Untersuchung zum interkulturellen Handeln an Münchner Schulen. München: Schul- und Kultusreferat der Landeshauptstadt München.
  • Toprak, A. (2004). "Wer sein Kind nicht schlägt, hat später das Nachsehen". Elterliche Gewaltanwendung in türkischen Migrantenfamilien und Konsequenzen für die Elternarbeit. Herbolzheim: Centaurus.
  • Zenk, U. & Gündoğdu, H. (2011). Interkulturelle Kompetenz und praktische Integration. Köln: Bildungsverlag Eins.

 

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