Fall 1.1 Impulse zur Falllösung: Perspektivische Interpretation

In Deutschland ist der Schulunterricht trotz eines zunehmenden Diversitätsbewusstseins in vielen Fällen noch immer auf eine Schülerschaft ausgelegt, die als homogen – im kulturellen Sinne, aber auch hinsichtlich der Leistungen von Schülerinnen und Schülern – verstanden werden kann und Lehrkräfte dementsprechend auf eine mehr oder weniger einheitliche Schülerschaft vorbereitet werden: "Mit Heterogenität – in Bezug auf Leistung, Sprache und Kultur – umzugehen, gehört auch nicht zu den geforderten Qualifikationen deutscher Lehrerinnen und Lehrer“ (Smith & Holzbrecher, 2015, S. 25).

Lehrerinnen und Lehrer befürchten möglicherweise, dass durch die Jugendlichen aus der Übergangsklasse die Heterogenität in der Klasse (weiter) ansteigt. Mit der zunehmenden Veränderung der Struktur der Schülerschaft ist häufig ein zeitlicher Mehraufwand und erhöhter Leistungsdruck verbunden, da bisherige Unterrichtsabläufe und -routinen durchbrochen werden. Möglicherweise müssen Unterricht neu geplant bzw. Unterrichtsmethoden und -materialien überarbeiten werden. Es ist mehr Zeit für Unterrichtsplanung und individuelle Förderung nötig.

Lehrerinnen und Lehrer sind an mehrere Vorgaben wie die der Lehrpläne gebunden und sehen sich oft in dem Erreichen ihrer Jahrgangsziele unter Zeitdruck. Die Lehrpläne sind, trotz zunehmender Heterogenität im Klassenzimmer, nicht bzw. unzureichend angepasst.

Überdies stehen Lehrkräften häufig noch nicht ausreichende Informationen und passende zusätzliche Materialien zur Verfügung, die sie im Umgang mit der neuen und herausfordernden Situation an sich sowie mit individuellen Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler unterstützen. Oft fehlen auch die Ressourcen (Weiterbildungen, Materialien, externe Partnerinnen und Partner etc.), um die Situation erfolgreich bewältigen zu können.

Für viele Schülerinnen und Schüler ist der Wechsel in eine neue Klasse mit Aufregung und vielleicht auch Ängsten verbunden: Sie trennen sich (teilweise) von Freundinnen und Freunden aus ihrer alten Klasse. Gleichzeitig lernen sie aber auch neue Mitschülerinnen und Mitschüler kennen. Der Wechsel in die Regelklasse kann somit eine Chance darstellen, sozialen Anschluss zu finden und somit ein Anlass zur Freude sein. Allerdings können sprachliche oder soziale Barrieren (auch bei anderen Schülerinnen und Schülern in der Klasse) die soziale Interaktion mit den neuen Klassenkameradinnen und Klassenkameraden (zunächst) auch einschränken.

Übergangsklassen sind so konzipiert, dass im Vordergrund der Erwerb der deutschen Sprache steht. Wegen der meist geringen bzw. unterschiedlich ausgeprägten Deutschkenntnisse der Schülerinnen und Schüler kann der Unterricht nur in reduzierterem Umfang als in einer Regelklasse erfolgen. Die deutsche Sprache stellt aber in den Regelklassen nicht allein Lerngegenstand, sondern vor allem auch Lernmedium dar. Somit wirken sich sprachliche Defizite übergreifend auf alle Unterrichtsfächer aus. Gerade wenn das Sprachniveau vor dem Wechsel von Übergangs- in die Regelklasse noch nicht ausreichend genug ist, dass Schülerinnen und Schüler dem Unterricht folgen können, oder die Förderung nicht ausreicht, können sich diese schnell überfordert und frustriert fühlen, was wiederum den Lernerfolg deutlich hemmen kann. Druck könnte auch von Seiten der Eltern entstehen, die von ihren Kindern fordern, so gut und schnell wie möglich Deutsch zu lernen. Aber auch vonseiten der Behörden und der Schule wird den Schülerinnen und Schülern möglicherweise, bewusst oder unbewusst, rückgemeldet, dass sie nur mit einem adäquaten Sprachniveau am deutschen Bildungssystem teilhaben können (was nicht zuletzt Studien wie PISA, Chancenspiegel etc. bestätigen). All diese Forderungen können sich bei den Jugendlichen in unterschiedlicher Form niederschlagen, beispielsweise in Stress, sinkender Motivation, Frustration etc. Dies wiederum steht der Erkenntnis gegenüber, dass das der Spracherwerb Zeit braucht und ein komplexer, langfristiger Prozess ist.

Als ‚Neuankömmling' in der Klasse können ethnische oder nationale Zugehörigkeit, Hautfarbe, Religion, kulturelle (oder als solche gedeutete) Unterschiede von anderen Jugendlichen in der Klasse Anlass für Ausgrenzung sein. Solche Diskriminierungserfahrungen können offen oder subtil geäußert werden. Sie können beispielsweise auf ‚wir'-‚sie' - Unterscheidungen beruhen, die nicht weniger verletzend wie ‚offener' Rassismus wirken (vgl. Attia, 2014).

Unter Umständen werden Schülerinnen und Schüler aufgrund ihrer ungenügenden Sprachkompetenz in niedrigere Klassenstufen eingestuft, als es ihrem Alter eigentlich angemessen wäre. Dort ist die Integration in die Klassengemeinschaft dann zusätzlich durch den Altersunterschied erschwert.

Möglicherweise leiden Schülerinnen und Schüler unter Traumata, die Folge von Erlebnissen und Erfahrungen sind, die sie in ihrem Herkunftsland und/oder während der Flucht gemacht haben. Die Traumasymptomatik kann sich unter Druck, Überforderung und Gefühlen der Frustration noch verstärken. Hier sind auf jeden Fall das Einschalten einer Schulpsychologin bzw. eines Schulpsychologen und die Initiierung einer Psychotherapie bzw. psychologische Betreuung notwendig.

Aus der geschilderten Situation geht hervor, dass die meisten Schülerinnen und Schüler großes Engagement zeigen, um die für sie neue Sprache zu erlernen. Diese positive Einstellung ist nicht als Selbstverständlichkeit vorauszusetzen, denn neben der neuen Sprache sind für die Jugendlichen meist noch viele weitere Dinge in Deutschland komplett neu (zum Beispiel ein neues soziales Umfeld, unbekannte Menschen, neues Schulsystem, geschlechtergemischte Schulen, Schulzeiten etc.). All das kann Stress bedeuten. Gelingt es den Schülerinnen und Schülern, ihre Motivation dennoch weiter aufrecht zu erhalten, ist ein schulischer und sozialer Erfolg realistisch. Hier ist die Rolle der Lehrkräfte als Motivationspersonen ganz entscheidend.

Viele Schülerinnen und Schüler sehen in der Begegnung mit neuen Schülerinnen und Schülern eine Erfahrung, die interessant und bereichernd sein kann. Sie zeigen dann Interesse beispielsweise an der Lebenssituation ihrer neuen Mitschülerinnen und Mitschüler, was zu Perspektivenübernahme beitragen und Ausgangspunkt von Kontakt und längerfristig Freundschaft sein kann. Eine skeptische Haltung gegenüber Neuem könnte zur Ablehnung führen. Dies belastet dann das Klima der ganzen Klasse (s.o.).

Vor allem schwächere oder besonders leistungsstarke Schülerinnen und Schüler in der Regelklasse könnten unter dieser (vorübergehenden) Veränderung leiden. Möglicherweise fühlen sich schwächere Jugendliche, sofern sie nicht in die Fördermaßnahmen der Übergangsschülerinnen und -schüler mit eingebunden sind, vernachlässigt und beklagen Ängste vor Leistungseinbußen. Stärkere Schülerinnen und Schüler hingegen fürchten vielleicht Unterforderung, sollte das (sprachliche und/oder fachliche) Niveau des Unterrichts sinken. Die Praxis zeigt, dass sich Lehrkräfte in solchen Situationen oft verstärkt um die neuen Schülerinnen und Schüler kümmern, damit diese nicht (komplett) den Anschluss verlieren. Fühlen sich andere Schülerinnen und Schüler vernachlässigt und machen dann dafür ihre neuen Klassenkameradinnen und -kameraden verantwortlich, wird deren soziale Interaktion zusätzlich erschwert.