Fall 1.1 Impulse zur Falllösung: Perspektivische Interpretation
- Fragestellung 1
- Fragestellung 2
Fragestellung 1
Analysieren Sie die Situation aus der Perspektive der Lehrerin: Welche unterschiedlichen Herausforderungen ergeben sich aus der beschriebenen Situation für die Lehrerin?
Die Situationsbeschreibung weist zunächst auf eine sehr heterogene Zusammensetzung der Klassengemeinschaft hin. In der Klasse kommen Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen nationalen, kulturellen, sozialen und religiösen Hintergründen zusammen. Die Schülerinnen und Schüler gehen abwertend miteinander um, es bilden sich Gruppen und es kommt zu Beleidigungen. Die Lehrkraft weiß nicht, was sie dagegen unternehmen kann und soll – und macht daher nichts.
Des Weiteren vermutet die Lehrerin, dass viele Äußerungen der Schülerinnen und Schüler lediglich zu Hause und in den Medien Gehörtes darstellen, was unreflektiert wiedergegeben wird. Die Lehrkraft ist der Meinung, dass ein spezielles Wissen über mögliche kulturell bedingte bzw. politisch geprägte Konflikte notwendig wäre, um streitschlichtende Lösungen zu finden. Allerdings fehlt ihr selbst dieses Wissen, weshalb sie sich nicht in der Lage sieht, einzugreifen. Möglicherweise betrachtet sich die Lehrerin auch deshalb nicht als geeignete Mediatorin bzw. Vermittlerin für die Gruppenkonflikte, da diese ihrer Vermutung nach nicht nur unter den Schülerinnen und Schülern bestehen, sondern auch außerhalb der Schule existieren und somit eine weitaus größere Tragweite haben. Dementsprechend befürchtet die Lehrerin vielleicht, dass sie durch ein Einmischen in die Gruppenkonflikte ein weitaus größeres "Fass" aufmachen könnte, weil sich dann möglicherweise Eltern einschalten.
Schließlich weist die Überforderung der Lehrkraft darauf hin, dass sie sich mit diesem Problem allein gelassen fühlt und offensichtlich auf keinerlei Unterstützung zurückgreifen kann.
Fragestellung 2
Beziehen Sie nun die Perspektive der Schülerinnen und Schüler in Ihre Überlegungen mit ein: Welche möglichen Erklärungen für das beschriebene Verhalten der Schülerinnen und Schüler ergeben sich aus der Fallbeschreibung?
Für die Lösungsfindung ist es in diesem Fall notwendig, mehr über den Gesamtkontext der Situation zu erfahren, um die möglichen Gründe für die gegenseitigen Anfeindungen zu kennen. Die Fallbeschreibung lässt auf folgende mögliche Erklärungen für das Verhalten der Schülerinnen und Schüler schließen:
Um sich mit den bestehenden Konflikten unter den Schülerinnen und Schülern auseinanderzusetzen, ist ein Einblick in die Bedeutung von Gruppenzugehörigkeiten und den daraus hervorgehenden Vorurteilen gegenüber Mitgliedern ‚fremder' bzw. als solche wahrgenommener Gruppen erforderlich.
Menschen ordnen Menschen anhand von Generalisierungen bestimmten Gruppen zu (vgl. den Begriff sozialer Kategorisierung, Tajfel & Turner, 1986). Diese Generalisierungen können der erste Schritt für die Entstehung von Vorurteilen gegenüber bestimmten Gruppen sein (vgl. Aronson, Wilson & Akert, 2011). G. W. Allport (1971) definiert Vorurteil als "ablehnende oder feindselige Haltung gegen eine Person, die zu einer Gruppe gehört, einfach deswegen, weil sie zu dieser Gruppe gehört und deshalb dieselben zu beanstandenden Eigenschaften haben soll, die man der Gruppe zuschreibt" (S. 21). Ein wesentliches Kriterium eines Vorurteils ist demzufolge der Bezug zur Eigen- und Fremdgruppe. Die Eigengruppe, auch In-Group genannt, ist die Gruppe, zu der sich ein Mensch zugehörig fühlt. Bei der Fremdgruppe (Out-Group) handelt es sich um die davon abgegrenzte Gruppe, deren wahrgenommenen Eigenschaften gegenüber man sich fremd fühlt (vgl. Petersen, 2008). Als soziale Kategorie kann eine Gruppe von Menschen beschrieben werden, die durch ein sichtbares Merkmal (zum Beispiel Geschlecht, Haarfarbe) oder eine weniger sichtbare gemeinsame Überzeugung (zum Beispiel Religion, ethnische Zugehörigkeit) gekennzeichnet ist (vgl. Klauer, 2008). Mit dem Bezug zur Eigengruppe geht eine mögliche Gefühlslage gegenüber Personen, die Mitglieder einer bestimmten Fremdgruppe sind, einher. Oft sind diese Emotionen negativ oder abwertend besetzt, eben vorurteilsbehaftet, und können, wie die oben beschriebene Situation zeigt, entsprechendes Verhalten hervorrufen.
Die oben beschriebene Fallsituation zeigt, dass sich die Schülerinnen und Schüler stark mit ihrer wahrgenommen Eigengruppe identifizieren, die zum Beispiel durch Religion (Sunnitin/Sunnit, Schiitin/Schiit) oder nationale Herkunft (türkisch, russisch) festgelegt wird. Dementsprechend können "Nicht-Mitglieder" für die Jugendlichen Personen darstellen, denen sie abwertend gegenüber stehen. Dies gilt insbesondere für Angehörige von Gruppen, zu denen die Eigengruppe bereits eine lange, tief verankerte "Rivalität" aufweist, die eventuell historisch oder "traditionell" begründet ist.
In diesem Kontext sollte besonders hervorgehoben werden, dass ethnische, nationale oder kulturelle Gruppenzugehörigkeiten a priori einen Konstruktionscharakter haben, also wesentlich durch die Imagination einer kollektiven Gemeinschaft hervorgebracht werden. Benedict Anderson spricht in Bezug auf Nationen von "imagined communities", denn obwohl "die Mitglieder selbst der kleinsten Nation die meisten anderen niemals kennen, ihnen begegnen oder auch nur von ihnen hören werden", existiert "im Kopf eines jeden die Vorstellung ihrer Gemeinschaft" (Anderson, 1998, S. 14f.). Diese Vorstellungen kollektiver Identitäten (Nation, Ethnie, Kultur) erschaffen einen wirksamen gesellschaftlichen Diskurs, der mit Ein- und Ausgrenzungen einhergeht. Indem man über die scharf voneinander abgrenzbaren ‚Kulturen' spricht, vernachlässigt man oft die Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten zwischen den ‚Kulturen' oder die Heterogenität innerhalb der kulturellen Gruppen. Dies geht zulasten der Wahrnehmung individueller Identitätsvielfalten (vgl. Hall, 2008, S. 47).
Innerhalb der menschlichen Sozialisation werden Vorurteile weitergegeben (vgl. Bierhoff & Rohmann, 2008; Dovidio et al., 2010; Mitulla, 1997). Vorurteile werden durch das eigene Umfeld vermittelt und sind Bestandteil des Normen- und Regelsystems einer Kultur. Bereits im Kindesalter werden Kategorisierungen wie ethnische Zugehörigkeiten vorgenommen. Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass sich im Rahmen der kulturellen Sozialisation die Entwicklung der Präferenz für die Eigengruppe vollzieht und damit auch die Abwertung der Fremdgruppe durch die Zuschreibung von negativen Eigenschaften (Vorurteilen) einhergeht (vgl. Bierhoff & Rohmann, 2008).
Die Meinung der eigenen Eltern, mit der Kinder und Jugendliche tagtäglich konfrontiert sind, stellt eine dominante Wissensquelle dar (vgl. Hurrelmann, 2002). Das Elternhaus als primäre Sozialisationsinstanz dürfte so gesehen maßgeblichen Einfluss auf Äußerungen der Jugendlichen haben, wie sie im Fall geschildert werden.
Medien nehmen auf die gegenseitige Wahrnehmung und Akzeptanz verschiedener Gruppen wesentlichen Einfluss. Leider ist dieser Einfluss nicht nur positiver Natur, sondern Medien tragen auch dazu bei, dass bestehende Vorurteile gegenüber bestimmten Gruppen weiterhin fortbestehen, indem sie von den Rezipientinnen und Rezipienten unreflektiert übernommen werden. So wird zum Beispiel der Islam in den Medien westlicher Kulturen oftmals vereinfacht, einseitig, (implizit) negativ und/oder verzerrend dargestellt (vgl. Köster, 2015; Trebbe & Paasch-Colberg, 2016). Ähnliche Darstellungen können wiederum das Christentum oder das Judentum in den Medien so genannter islamisch geprägter Länder erfahren, was Vorurteilen Vorschub leistet.
Einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf das Verhalten der Schülerinnen und Schüler kann die Pubertät einnehmen. Schülerinnen und Schüler der 8. Jahrgangsstufe befinden sich in einer für die Identitätsentwicklung bedeutenden Phase: Sie stehen vor der Frage, wer sie eigentlich sind und werden wollen. Für die Entwicklung von Persönlichkeit und Selbstwert ist die Auseinandersetzung mit der sozialen Umwelt von zentraler Bedeutung. Gerade im Jugendalter nimmt neben Familie und Schule die Peergroup eine maßgebliche Rolle ein (vgl. Hurrelmann, 2002). Diese gibt Jugendlichen in einer Zeit großer Verunsicherung Orientierung und bieten darüber hinaus eine Art "Plattform" und Spiegel für die Erprobung von Sozialverhalten. Sich in der Peer-Group behaupten zu können, stärkt den Selbstwert. Dementsprechend wichtig ist die Anerkennung durch Mitschülerinnen und Mitschüler (bzw. ein positiver Peerstatus), die zum Beispiel auch durch das Abwerten anderer Schülerinnen und Schüler gewonnen oder gesteigert werden kann. Gruppenkonformität spielt eine nicht minder bedeutende Rolle, da die Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen Jugendlichen Halt bietet und einen Handlungsrahmen verschafft (vgl. Fend, 2005).