Fall 1.2 Impulse zur Falllösung: Mehrebenen-Interpretation
Versuchen Sie nun, die Situation über die individuelle Ebene hinaus zu interpretieren: Welche gesellschaftlichen/strukturellen Faktoren beeinflussen möglicherweise die Entstehung und die Dynamik von rassistischen Einstellungen?
Gesellschaftliche Rahmenbedingungen
Um die Ursachen des abwertenden Verhaltens der Schülerinnen und Schüler in dem oben geschilderten Fall wirklich umfassend deuten zu können, ist es wichtig, nicht nur individuelle bzw. gruppenspezifische Faktoren einzubeziehen, sondern auch den gesamtgesellschaftlichen Kontext zu berücksichtigen.
Mit Blick auf den gesellschaftlichen und politischen Umgang mit nationalen, ethnischen und kulturellen Zugehörigkeiten lässt sich zunächst festhalten, dass das Einordnen der Menschen zu bestimmten ‚Gruppen' und daran anknüpfende Hierarchisierung und Abgrenzung dieser Gruppen voneinander ein charakteristisches Merkmal von Gesellschaften an sich ist. Zuschreibungen und Unterscheidungen werden von allen gesellschaftlichen Gruppen vorgenommen – jedoch mit unterschiedlicher Wirksamkeit. Nimmt die oder eine gesellschaftlich dominante Gruppe (sogenannte ‚Mehrheitsgesellschaft') eine Zuschreibung gegenüber einer anderen Gruppe vor, so zeigt diese in der Regel mehr Wirkung: Die Perspektiven der Mehrheitsangehörigen sind politisch, medial, institutionell, strukturell und alltagsweltlich stärker präsent, haben also mehr ‚Reichweite'. Dadurch gelten die Selbst-, Fremd- und Situationsbeschreibungen dieser Gruppe als Norm und werden häufig unhinterfragt reproduziert. Minderheitenangehörige hingegen sind damit konfrontiert, dass ihre Perspektiven seltener Gehör finden. Dementsprechend kann es passieren, dass die als ‚normal' geltenden Zuschreibungen der Mehrheitsangehörigen an Minderheitenangehörige oft gar nicht als ausgrenzend oder diskriminierend wahrgenommen werden (ein Beispiel ist die ‚harmlose' Frage "Woher kommst du eigentlich?", die oft als Erstes Personen gestellt wird, deren Aussehen, Name oder Akzent nicht den eigenen ‚Norm'vorstellungen entspricht) (vgl. Brunner & Ivanova, 2015, S. 33f.).
Angehörige gesellschaftlich minorisierter Gruppen sind daher häufig mit Zuschreibungen entlang der nationalen, kulturellen oder religiösen Zugehörigkeit konfrontiert. Eine Sozialisierung unter solchen Bedingungen geht meist mit einer Verinnerlichung des dahinter stehenden normativen Ausgrenzungsmechanismus einher. Solche Zuschreibungen werden dann (oft unbewusst) weitergetragen. Rassismus, Antisemitismus und ‚gruppenbezogene Fremdenfeindlichkeit' sind dabei keine Randphänomene, sondern finden sich auch in einflussreichen gesellschaftlich dominanten Gruppen (‚bürgerliche Mitte'/‚obere Schicht'/‚Intellektuelle') (vgl. Heitmeyers Langzeitstudie "Deutsche Zustände"; Heitmeyer (Hrsg.), 2002-2011) und werden von Kindern und Jugendlichen mit oder ohne bestimmten ‚Hintergrund' im Laufe der Sozialisation aufgenommen und reproduziert.
Strukturelle Rahmenbedingungen
Die Schulstrukturen in Deutschland sind nur teilweise auf eine sprachlich-kulturell heterogene Schülerschaft ausgelegt (vgl. Krüger-Potratz, 2003). Studien zufolge werden Schüler/innen mit Migrationshintergrund häufig mit Formen subtiler Diskriminierung konfrontiert (vgl. Antidiskriminierungsstelle des Bundes, 2013, S. 103ff.). Negative ethnisch-kulturelle Zuschreibungen im schulischen Kontext zeigen sich beispielsweise darin, dass bei auffallendem Verhalten muslimischer bzw. von Lehrkräften sowie Schülerinnen und Schülern als solche identifizierter Jugendlicher häufig negative, pauschalisierende Rückschlüsse auf deren Religion gezogen werden. Weitere Faktoren, wie zum Beispiel die familiäre Sozialisation, individuelle Persönlichkeitsmerkmale oder altersbedingte Entwicklungsphasen, werden außer Acht gelassen (vgl. Ivanova, Kollmannsberger & Kiel, 2017). Stigmatisierende Zuschreibungen finden sich unter anderem in einer defizitorientierten Einstellung gegenüber muslimischen Schülerinnen mit Kopftuch, deren schulische Leistungen oft unterschätzt werden (vgl. Antidiskriminierungsstelle des Bundes, 2013, S. 16) sowie mit Blick auf die schulischen Leistungen türkischer Schülerinnen generell (vgl. Weber, 2003). Zuschreibungen wie die beschriebenen sind ein wichtiger Faktor, der zur Verschlechterung der Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen beitragen kann (vgl. Gomolla & Radtke, 2009).
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