Lehrstuhl für Sprachheilpädagogik
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10. Förderung der Lesegeschwindigkeit durch ein softwaregestütztes Training auf der Grundlage des Text-Fading-Paradigmas

Projektleiter: Prof. Dr. Andreas Mayer

Kooperationspartner:
- Trout GmbH, Kassel (Martin Bussas)

 

1. Theoretischer Hintergrund und Ausgangslage

Die Kernproblematik leseschwacher Schüler*innen, die die relativ transparente deutsche Orthographie erlernen, ist in der beeinträchtigten Automatisierung der Worterkennung angesiedelt. Die Schwierigkeiten, gedruckte Wörter eines Textes weitgehend bewusstseinsfern und automatisiert in Lautsprache umzuwandeln, führen üblicherweise zu Problemen im Bereich des Leseverständnisses. Je mehr Aufmerksamkeit eine Leser*in auf die Lesetechnik lenken muss, desto weniger kognitive Ressourcen stehen ihm/ihr für die inhaltliche Auseinandersetzung zur Verfügung. Positiv ausgedrückt sollten Maßnahmen, die auf die Automatisierung der Worterkennung abzielen, auch zu Verbesserungen im Leseverständnis führen, da die kognitiven Ressourcen und Aufmerksamkeitskapazitäten, die ursprünglich auf die lesetechnische Bewältigung eines Textes gelenkt werden mussten, nun für die inhaltliche Auseinandersetzung zur Verfügung stehen. Bspw. konnten Seuring & Spörer (2010) zeigen, dass ein isoliertes Training der Leseflüssigkeit bei Schülern der 5. Klasse auch zu einer signifikanten Verbesserung des Leseverständnisses führte. Vergleichbar kamen Chard et al. (2002) in einer Analyse des Forschungsstandes zu dem Ergebnis, dass eine Verbesserung der direkten Worterkennung in vielen Fällen mit Fortschritten im Bereich des Leseverständnisses einhergeht, auch wenn das nicht das eigentliche Ziel der Intervention war.

Ein vielversprechender Ansatz zur Steigerung der Lesegeschwindigkeit, für den auch positive Auswirkungen auf das Leseverständnis nachgewiesen werden konnten, ist das „Reading Acceleration Program“ das in den 1980er Jahren von Breznitz (1987) in Israel mit Jugendlichen und Erwachsenen evaluiert wurde. Dabei werden die einzelnen Buchstaben, eines Satzes oder eines Textes, angepasst an die aktuelle Lesegeschwindigkeit softwaregesteuert in Leserichtung ausgeblendet. Gelingt es den Probanden, das präsentierte Material sinnentnehmend zu lesen, wird die Geschwindigkeit, mit der die schriftsprachlichen Einheiten ausgeblendet werden, sukzessive erhöht. Die Intention dieser Methodik besteht darin, die Schüler zu zwingen, schneller zu lesen als sie dies normalerweise tun und das insbesondere bei leseschwachen Kindern vorherrschende buchstabenweise Erlesen von Wörtern durch die ganzheitlich simultane Erfassung größerer schriftsprachlicher Einheiten (orthographische Strategie) zu ersetzen. Positive Auswirkungen dieses Ansatzes auf die Leseflüssigkeit, ohne dass auf Seiten des Leseverständnisses Einbußen zu verzeichnen waren, konnten für jugendliche und erwachsene Leser nachgewiesen werden. Aber auch für leseschwache Kinder wurden überzeugende Effektivitätsnachweise erbracht (Korinth/Nagler 2020, Nagler et al. 2015), wobei insbesondere die Frage nach der Stabilität der unmittelbaren Trainingseffekte noch nicht zufriedenstellend beantwortet werden konnte.

 

2. Training der Leseflüssigkeit

Am Lehrstuhl für Sprachheilpädagogik der LMU München wurde in Kooperation mit der Firma Trout GmbH (Kassel, Kooperationspartner: Martin Bussas, Carsten Dettmer) ein Programm entwickelt, dem dieser Ansatz zugrunde liegt, das aber nicht ausschließlich auf Satz- und Textebene arbeitet, sondern auch die automatisierte Verarbeitung häufiger Wörter und orthographischer Muster integriert.
Vor Beginn des Trainings wird in einem ersten Schritt die Lesegeschwindigkeit des Kindes auf Silben-, Wort- und Satz- bzw. Textebene als Ausgangswert bestimmt. Angepasst an die festgestellte Lesegeschwindigkeit (Ausgangsleistung) werden beim anschließenden Training die einzelnen Wörter silben- bzw. wortweise ausgeblendet. Gelingt es dem Kind das präsentierte Material in der aktuellen Ausblendgeschwindigkeit zu lesen, wird die Ausblendgeschwindigkeit im nächsten Durchgang um 0.03 Sekunden pro Wort bzw. Silbe erhöht.
Für das Training stehen unterschiedlichen Module zur Verfügung, die kombiniert aber auch unabhängig voneinander eingesetzt werden können.

  1. Automatisierte Verarbeitung der in der deutschen Schriftsprache am häufigsten vorkommenden Wörter (z.B. „der“, „auf“, „ist“ etc.)
  2. Automatisierte Verarbeitung der in der deutschen Schriftsprache am häufigsten vorkommenden orthographischen Muster (= Buchstabenfolgen aus drei bis vier Buchstaben, z.B. „echt“, „iege“ etc.)
  3. Förderung der Lesegeschwindigkeit auf Satz- und Textebene
  4. Förderung der Lesegeschwindigkeit auf Satz- und Textebene mit Inhaltsfragen

Für die ersten beiden Module (häufige Wörter und orthographische Muster) generiert das Programm nach einem Zufallsprinzip Vorlagen mit ca. 40 Einheiten, die in fünf Zeilen mit jeweils acht Wörtern bzw. orthographischen Mustern präsentiert und sukzessive ausgeblendet werden. Im Modul „Sätze“ und „Texte“ kann aus einem Vorrat von ca. 50 Vorlagen gewählt werden. Die einzelnen Wörter werden silbenweise ausgeblendet.
Im Modul 4 arbeitet das Kind selbständig. Nach jedem Satz bzw. Text, dessen Wörter angepasst an die aktuelle Lesegeschwindigkeit silbenweise ausgeblendet werden, erscheint eine Inhaltsfrage, die das Kind durch Anklicken einer von vier Alternativen beantworten muss.
Eine Erhöhung der Ausblendgeschwindigkeit erfolgt in diesem Modul nur dann, wenn drei Fragen in Folge korrekt beantwortet wurden. Für dieses Modul stehen etwa 200 Sätze und kurze Texte zur Verfügung.

 

3. Zielgruppe

Schülerinnen und Schüler ab der zweiten Klasse mit besonderen Schwierigkeiten im Bereich der Lesegeschwindigkeit (PR < 16 in einem der beiden Subtests des SLRT II (Moll/Landerl, 2010) die die indirekte Strategie des phonologischen Rekodierens bereits beherrschen.

 

4. Methode

4. 1 Design

Die verschiedenen Module werden im Rahmen von studentischen Abschlussarbeiten (Machbarkeitsstudien) unabhängig voneinander hinsichtlich ihrer Umsetzbarkeit und Effektivität an kleinen Stichproben überprüft.
Anschließend (voraussichtlich Schuljahr 2023/24) wird die Effektivität des Trainings im Rahmen einer cluster-randomisierten und kontrollierten Interventionsstudie evaluiert. Dabei werden die Auswirkungen der softwaregestützten Förderung (EG) in einem Prä-Post-Follow Up-Test-Design (T1 – Förderung – T2 – T3) mit einer „No-Treatment-Kontrollgruppe“ (KG) verglichen. Mit Hilfe dieses methodischen Vorgehens soll auch die langfristige Stabilität der Trainingseffekte (3 Monate nach Trainingsende) ermittelt werden.
Angestrebt wird ein Stichprobenumfang von ca. N= 100 Kindern, die clusterrandomisiert auf verschiedene Trainings- (n=80) und eine „No-Treatment-Kontrollgruppe“ (KG) (n=20) aufgeteilt werden. Um zu verhindern, dass auch Kinder der Kontrollgruppe mit dem Material der Experimentalgruppen in Berührung kommen, erfolgt eine clusterrandomisierte Zuteilung zu den Versuchsbedingungen, so dass alle teilnehmenden Schülerinnen und Schüler einer Schule jeweils der gleichen Bedingung zugeordnet werden
In der KG findet im Rahmen des Projekts keine vom Forschungsteam initiierte spezifische Förderung der Benennungsgeschwindigkeit statt.

4. 2 Messverfahren

- Überprüfung der Lesegeschwindigkeit
Da das Training primär auf eine Erhöhung der Leseflüssigkeit abzielt, stellt die Worterkennungsgeschwindigkeit die primäre Outcome-Variable dar. Um diese Variable zu bestimmen, kommen die beiden „Ein Minuten Leseflüssigkeitstests“ des Salzburger Lese-Rechtschreibtests“ (SLRT II; Moll/Landerl 2010) zum Einsatz. Mit Hilfe des „Subtests zur Erfassung des synthetischen Lesens“ (Lesen von Pseudowörtern) kann die Geschwindigkeit bei der Anwendung der indirekten Lesestrategie bestimmt werden. Die direkte, automatisierte Worterkennung wird über die Lesegeschwindigkeit für echte Wörter erfasst.

- Überprüfung des Leseverständnisses
Um zu überprüfen, inwiefern das Training auch zu Verbesserungen im Bereich des Leseverständnisses führt, kommt der normierte Test ELFE II (Lenhard et al. 2017) zum Einsatz, mit Hilfe dessen das sinnentnehmenden Lesen auf Wort-, Satz- und Textebene mit einer Geschwindigkeitskomponente erfasst werden kann.

4. 3 Ergebnisse

Von den Ergebnissen der Studie wird an dieser Stelle fortlaufend berichtet werden.

 

Literaturverzeichnis

  • Breznitz, Z. (1987). Increasing first graders’ reading accuracy and comprehension by accelerating their reading rates. Journal of Educational Psychology 79 (3), 236–242
  • Chard, D. J., Vaughn, S. & Tyler, B. J. (2002). A synthesis of research on effective interventions for building reading fluency with elementary students with learning disabilities. Journal of learning disabilities, 35(5), 386–406.
  • Korinth S. P., Nagler T. (2021). Improving reading rates and comprehension? Benefits and limitations of the reading acceleration approach. Language and Linguistics Compass 15(3), e12408
  • Lenhard, W., Lenhard, A, Schneider, W. (2016). ELFE II. Ein Leseverständnistest für Erst- bis Siebtklässler. Hogrefe, Göttingen
  • Moll, K., Landerl, K. (2017). SLRT II. Lese- und Rechtschreibtest. Weiterentwicklung des Salzburger Lese- und Rechtschreibtests (SLRT). Hogrefe, Göttingen
  • Nagler, T., Korinth, S., Linkersdörfer, J., Lonnemann, J. Rump, J., Hasselhorn, M., Lindberg, S. (2015). Text-fading based training leads to transfer effects on children’s sentence reading fluency. Frontiers in Psychology 6, (Art. 119), 1-8
  • Seuring, V.A., Spörer, N. (2010). Reziprokes Lehren in der Schule: Förderung von Leseverständnis, Leseflüssigkeit und Strategieanwendung. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie 24 (3-4), 191-205.