Lehrstuhl für Sprachheilpädagogik
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13. Förderung der morphologischen Bewusstheit im Schulalter

Entwicklung und Evaluation eines Förderkonzeptes der morphologischen Bewusstheit zur Verbesserung laut- und schriftsprachlicher Fähigkeiten bei Kindern im Schulalter

Kooperationsprojekt mit der Universität Paderborn (Prof. Dr. Kristina Jonas, Förderschwerpunkt Sprache)

Projektleitung: Prof. Dr. Kristina Jonas, Prof. Dr. Andreas Mayer

Projektkoordinatorinnen: Joanna Bodynek (M. Ed.), Dr. Dana Gaigulo

1. Theoretischer Hintergrund

Mit dem Eintritt in die Schule rückt der Schriftspracherwerb in den Mittelpunkt der kindlichen Entwicklung. Werden die Lese- und Rechtschreibfähigkeiten unzureichend erworben, hat dies weitreichende Folgen für die sozial-emotionale Entwicklung, den schulischen Lernerfolg, die beruflichen Chancen und die gesellschaftliche Teilhabe der Kinder (Livingston et al., 2018; Zhou, 2023). Die lexikalischen Fähigkeiten stehen damit in engem Zusammenhang. Die Erweiterung und Ausdifferenzierung des Wortschatzes hat eine hohe Relevanz für den Bildungserfolg, etwa durch Auswirkungen auf das Leseverständnis oder den Erwerb bildungssprachlicher Kompetenzen (Röthlisberger et al., 2021; Schuth et al., 2017).

Dass insbesondere im Bereich der schriftsprachlichen Fähigkeiten aktuell großer Handlungsbedarf besteht, zeigt die PISA-Studie aus dem Jahr 2022: Etwa ein Viertel der Schüler:innen in Deutschland konnte 2022 die Mindestanforderungen im Lesen nicht erfüllen (Lewalter et al., 2023). Es bedarf daher evidenzbasierter Konzepte zur effektiven Förderung schriftsprachlicher und lexikalischer Kompetenzen in der Primarstufe.

Die morphologische Bewusstheit wird im angloamerikanischen Raum bereits seit den 1990er Jahren als wichtiger Einflussfaktor auf die Lese- und Rechtschreibkompetenz sowie den Wortschatz von Kindern diskutiert (siehe binding agent theory‘ nach Kirby und Bowers (2018); ‚Morphological Pathways Framework‘ nach Levesque et al. (2021)).
Die morphologische Bewusstheit bezeichnet die Bewusstheit über die morphologische Struktur von Wörtern und die Fähigkeit, diese Strukturen zu reflektieren und zu manipulieren (Carlisle, 1995). Sie bezieht sich auf die Fähigkeit, Wörter in ihre bedeutungstragenden Einheiten wie Präfixe, Stämme und Suffixe zu zerlegen. Im Vordergrund stehen dabei die morphologischen Prozesse der Derivation, Flexion und Komposition.

Metaanalysen zu bestehenden Querschnittstudien bestätigen die theoretisch angenommenen Zusammenhänge zwischen der morphologischen Bewusstheit und den laut- und schriftsprachlichen Fähigkeiten von Kindern, wie der Leseflüssigkeit, dem Leseverständnis, der Rechtschreibung und dem Wortschatz (Lee et al., 2023; Liu et al., 2024).

Hinsichtlich einer Förderung der morphologischen Bewusstheit konnten positive Effekte auf die Lese-, Rechtschreib- und lexikalischen Fähigkeiten bei Kindern verschiedener Altersgruppen sowie bei Kindern mit und ohne Dyslexie nachgewiesen werden (Bowers et al., 2010; Colenbrander et al., 2024; Goodwin & Ahn, 2013). Die Förderung der morphologischen Bewusstheit stellt somit einen vielversprechenden Interventionsansatz dar, um Kinder in ihrem (Schrift-)Spracherwerb zu unterstützen.

Obwohl es eine Reihe von Längsschnittstudien zur Prädiktion (schrift-)sprachlicher Fähigkeiten durch die morphologische Bewusstheit gibt (z. B. Deacon & Levesque, 2024; Levesque et al., 2018; Manolitsis et al., 2019), wurden diese Studien bisher nicht systematisch zusammengefasst. Unklar ist daher, zu welchem Zeitpunkt in der kindlichen Entwicklung die morphologische Bewusstheit den größten Einfluss auf den (Schrift-)Spracherwerb hat und Kinder am empfänglichsten für eine Förderung der morphologischen Bewusstheit sind.

Die vorliegenden Übersichtsarbeiten zur Förderung der morphologischen Bewusstheit konzentrieren sich auf eine quantitative Evaluation der Interventionen und beinhalten keine qualitative Analyse der Rahmenbedingungen und Inhalte der Trainingsprogramme. Schlussfolgerungen für die Entwicklung und Gestaltung eines Förderprogramms der morphologischen Bewusstheit lassen sich aus den vorliegenden Metaanalysen daher nur bedingt ableiten.

Für den deutschsprachigen Raum liegen erste querschnittliche und längsschnittliche Studien zu den Zusammenhängen zwischen morphologischer Bewusstheit und literalen Fähigkeiten vor (z.B. Ewald & Steinbrink, 2023; Görgen et al., 2021; Kargl et al., 2018 ). Allerdings mangelt es im deutschsprachigen Raum an evidenzbasierten Konzepten zur Förderung der morphologischen Bewusstheit und es gibt bislang kein Förderprogramm, das neben der morphematischen Rechtschreibstrategie auch das Lesen und den Wortschatz berücksichtigt (Mayer, 2023).

2. Zielsetzung des Forschungsvorhabens

Vor dem Hintergrund des dargestellten Forschungsstandes lässt sich die Zielsetzung des Forschungsvorhabens definieren. Ziel ist es zunächst, die prädiktive Bedeutung der morphologischen Bewusstheit und die Gestaltung von Förderprogrammen theoriegeleitet zu analysieren. Auf Basis der gewonnenen Ergebnisse soll anschließend ein Konzept zur Förderung der morphologischen Bewusstheit für Schulkinder mit und ohne Förderbedarf entwickelt werden.

Ein besonderer Fokus des Forschungsvorhabens liegt auf der Entwicklung und Evaluation einer digitalen Version des Förderprogramms sowie der besonderen Betrachtung der Wirksamkeit der Förderung bei mehrsprachigen Kindern.
Das Förderprogramm soll im Anschluss hinsichtlich seiner Wirksamkeit auf die Lesefähigkeiten sowie die orthographischen und lexikalischen Fähigkeiten der Kinder überprüft werden.

Daraus ergeben sich folgende zentrale Fragestellungen:

  • Ist die morphologische Bewusstheit im Schulalter ein Prädiktor für die Lese- und Rechtschreibfähigkeiten sowie den Wortschatz?
  • Wie kann eine effektive Förderung der morphologischen Bewusstheit gestaltet werden?
  • Verbessert die Förderung der morphologischen Bewusstheit die Lese- und Schreibfähigkeiten sowie den Wortschatz von Schulkindern mit und ohne Förderbedarf?
  • Unterscheiden sich die erreichten Verbesserungen je nach Spracherwerbstyp (ein- oder mehrsprachig)?
  • Unterscheiden sich die erreichten Verbesserungen je nach Art der Förderung (analog, digital, hybrid)?

3. Methodisches Vorgehen

Das Forschungsprojekt ist auf ca. drei Jahre angelegt und umfasst sechs Projektphasen, die in Abb. 1 dargestellt sind.

3.1 Aufarbeitung des Forschungsstandes (Projektphase 1)

Ausgehend von den Ergebnissen bereits vorliegender Übersichtsarbeiten und den identifizierten Forschungslücken sollen zunächst zwei systematische Reviews durchgeführt werden, die

  1. die prädiktiven Zusammenhänge zwischen morphologischer Bewusstheit und den Lese- und Rechtschreibfähigkeiten sowie dem Wortschatz
  2. die Gestaltung einer effektiven Förderung der morphologischen Bewusstheit untersuchen.

3.2 Entwicklung eines Förderprogramms der morphologischen Bewusstheit (Projektphasen 2-4)

Die Ergebnisse der systematischen Übersichtsarbeiten dienen dann als theoretische Grundlage für die Entwicklung eines deutschsprachigen Interventionsansatzes. Ziel der Intervention ist es, die Lese- und Rechtschreibkompetenz sowie den Wortschatz von Kindern durch die Förderung der morphologischen Bewusstheit zu verbessern.

Zielgruppe
Zielgruppe des Förderprogramms sind voraussichtlich Schüler*innen der dritten und vierten Klasse. Das Förderprogramm richtet sich an ein- und mehrsprachig aufwachsende Kinder. Es werden sowohl Kinder mit diagnostizierter Dyslexie/ Sprachentwicklungsstörung als auch Kinder mit unauffälliger Entwicklung im Lesen, Rechtschreiben und im Wortschatz angesprochen.

Aufbau der Förderung
Die Intervention wird als unterrichtsintegrierte Förderung mit der gesamten Klasse geplant.
Die inhaltlichen Schwerpunkte (Flexions-, Derivations-, Kompositionsmorphologie) und die didaktische Aufbereitung (Aufgabenformate, Setting & Medien, Lernmodus) werden sich aus den Vorarbeiten (siehe Projektphase 1) ergeben.

Erprobung und Überarbeitung des Förderkonzeptes
Die entwickelte Intervention wird zunächst in verschiedenen Settings im Rahmen von Machbarkeitsstudien erprobt und auf Basis der Ergebnisse überarbeitet. Zur Durchführung der Wirksamkeitsstudie wird ein Ethikvotum eingeholt und die Datenerhebung vorbereitet.

3.3 Erprobung und Evaluation des Förderkonzeptes im Rahmen einer randomisierten, kontrollierten Interventionsstudie (Projektphasen 5-6)

Die Wirksamkeit des Förderprogramms wird anschließend mittels einer cluster-randomisierten, kontrollierten Interventionsstudie (cRCT) überprüft. Zur Messung der morphologischen Bewusstheit wird der in Entwicklung befindliche Test zur Erfassung der morphologischen Bewusstheit von Mayer (2024) eingesetzt. Darüber hinaus werden weitere (schrift-)sprachliche Leistungen mit standardisierten Testverfahren erhoben, darunter (im Hinblick auf die Förderziele) die Rechtschreibleistung, die Lesegeschwindigkeit und Leseflüssigkeit sowie der Wortschatz. Es werden gezielt Subgruppenanalysen bezüglich der Wirksamkeit des Förderprogramms in unterschiedlichen Fördersettings sowie bei verschiedenen Spracherwerbstypen vorgenommen. Ergebnisse werden im Sommer 2027 erwartet.

Projektphasen_MB

 Abbildung 1: Darstellung der Projektphasen des Forschungsprojektes

Literatur

  • Bowers, P. N., Kirby, J. R. & Deacon, S. H. (2010). The Effects of Morphological Instruction on Literacy Skills: A Systematic Review of the Literature. Review of Educational Research, 80(2), 144–179. https://doi.org/10.3102/0034654309359353
  • Carlisle, J. F. (1995). Morphological awareness and early reading achievement. In Morphological aspects of language processing (S. 189–209). Lawrence Erlbaum Associates, Inc.
  • Colenbrander, D., Hagen, A. von, Kohnen, S., Wegener, S., Ko, K., Beyersmann, E., Behzadnia, A., Parrila, R. & Castles, A. (2024). The Effects of Morphological Instruction on Literacy Outcomes for Children in English-Speaking Countries: A Systematic Review and Meta-Analysis. Educational Psychology Review, 36(4). https://doi.org/10.1007/s10648-024-09953-3
  • Deacon, S. H. & Levesque, K. (2024). Mechanisms in the relation between morphological awareness and the development of reading comprehension. Journal of Educational Psychology, 116(6), 1052–1069. https://doi.org/10.1037/edu0000871
  • Ewald, S.‑M. & Steinbrink, C. (2023). Die Rolle der morphologischen Bewusstheit für den frühen Schriftspracherwerb. Lernen und Lernstörungen, 12(3), 127–141. https://doi.org/10.1024/2235-0977/a000405
  • Goodwin, A. P. & Ahn, S. (2013). A Meta-Analysis of Morphological Interventions in English: Effects on Literacy Outcomes for School-Age Children. Scientific Studies of Reading, 17(4), 257–285. https://doi.org/10.1080/10888438.2012.689791
  • Görgen, R., Simone, E. de, Schulte‐Körne, G. & Moll, K. (2021). Predictors of reading and spelling skills in German: the role of morphological awareness. Journal of Research in Reading, 44(1), 210–227. https://doi.org/10.1111/1467-9817.12343
  • Kargl, R., Wendtner, A., Purgstaller, C. & Fink, A. (2018). Der Einfluss der morphematischen Bewusstheit auf die Rechtschreibleistung. Lernen und Lernstörungen, 7(1), 45–54. https://doi.org/10.1024/2235-0977/a000202
  • Kirby, J. R. & Bowers, P. N. (2018). The Effects of Morphological Instruction on Vocabulary Learning, Reading, and Spelling. In R. Berthiaume, D. Daigle & A. Desrochers (Hrsg.), Morphological processing and literacy development: Current issues and research (S. 217–243). Routledge.
  • Lee, J. w., Wolters, A. & Grace Kim, Y.‑S. (2023). The Relations of Morphological Awareness with Language and Literacy Skills Vary Depending on Orthographic Depth and Nature of Morphological Awareness. Review of Educational Research, 93(4), 528–558. https://doi.org/10.3102/00346543221123816

 

  • Levesque, K. C., Breadmore, H. L. & Deacon, S. H. (2021). How morphology impacts reading and spelling: advancing the role of morphology in models of literacy development. Journal of Research in Reading, 44(1), 10–26. https://doi.org/10.1111/1467-9817.12313
  • Levesque, K. C., Kieffer, M. J. & Deacon, S. H. (2018). Inferring Meaning From Meaningful Parts: The Contributions of Morphological Skills to the Development of Children's Reading Comprehension. Reading Research Quarterly, 54(1), 63–80. https://doi.org/10.1002/rrq.219
  • Lewalter, D., Diedrich, J., Goldhammer, F., Köller, O. & Reiss, K. (2023). PISA 2022. Waxmann Verlag GmbH. https://doi.org/10.31244/9783830998488
  • Liu, H., Wang, L. L., Wang, J., Lao, G., Liu, M. & Deng, C. (2024). A Meta-Analysis of the Moderators in the Relationship Between Morphological Awareness and Chinese Reading Accuracy. Scientific Studies of Reading, 1–17. https://doi.org/10.1080/10888438.2024.2419541
  • Livingston, E. M., Siegel, L. S. & Ribary, U. (2018). Developmental dyslexia: emotional impact and consequences. Australian Journal of Learning Difficulties, 23(2), 107–135. https://doi.org/10.1080/19404158.2018.1479975
  • Manolitsis, G., Georgiou, G. K., Inoue, T. & Parrila, R. (2019). Are morphological awareness and literacy skills reciprocally related? Evidence from a cross-linguistic study. Journal of Educational Psychology, 111(8), 1362–1381. https://doi.org/10.1037/edu0000354
  • Mayer, A. (2023). Förderung der morphologischen Bewusstheit in der Primarstufe. Sprachförderung und Sprachtherapie in Schule und Praxis(4), 203–211.
  • Mayer, A. (2024). Diagnostik der morphologischen Bewusstheit. Sprachförderung und Sprachtherapie in Schule und Praxis(3), 118–126.
  • Röthlisberger, M., Schneider, H. & Juska-Bacher, B. (2021). Lesen von Kindern mit Deutsch als Erst- und Zweitsprache – Wortschatz als limitierender Faktor. Zeitschrift für Grundschulforschung, 14(2), 359–374. https://doi.org/10.1007/s42278-021-00115-w
  • Schuth, E., Köhne, J. & Weinert, S. (2017). The influence of academic vocabulary knowledge on school performance. Learning and Instruction, 49, 157–165. https://doi.org/10.1016/j.learninstruc.2017.01.005
  • Zhou, Q. (2023). How Does Dyslexia Influence Academic Achievement? In Y. Chen, M. T. Anthony & Y. Ke (Hrsg.), Proceedings of the 2022 2nd International Conference on Modern Educational Technology and Social Sciences (ICMETSS 2022) (S. 861–868). Atlantis Press SARL. https://doi.org/10.2991/978-2-494069-45-9_104