7. Entwicklung und Erprobung eines Tests zur Erfassung syntaktisch-morphologischer Fähigkeiten – Versteckspiele mit Leo und Annika
Projektleiter: Prof. Dr. Andreas Mayer
Kooperationspartner:
1. Theoretischer Hintergrund und Ausgangslage
Mit dem Begriff „Grammatische Störungen“ wird die Teilproblematik des gestörten kindlichen Spracherwerbs bezeichnet, bei der Kinder die morphologischen und syntaktischen Regeln, die sie zum korrekten Gebrauch ihrer Bezugssprache benötigen, nicht altersgemäß erwerben (Motsch 2017).
Um eine auf die individuelle Problematik eines Kindes zugeschnittene (unterrichtsintegrierte) Sprachtherapie realisieren zu können, bedarf es objektiver, valider, reliabler und ökonomischer Verfahren, die die spezifischen Schwierigkeiten von Kindern und Jugendlichen auf syntaktisch-morphologischer Ebene identifizieren können.
Für die Beurteilung bzw. die Entwicklung diagnostischer Verfahren wurden von Motsch (2017) Qualitätskriterien formuliert, die als Grundlage für die Entwicklung der „Versteckspiele mit Leo und Annika“ handlungsleitend waren.
- Entwicklungsorientierung: Das auf der Grundlage des Testergebnisses abgeleitete syntaktisch-morphologische Profil muss die grammatischen Fähigkeiten vor dem Hintergrund der durch den aktuellen Forschungsstand belegten Erwerbsreihenfolge abbilden.
- Fokussierung der syntaktisch-morphologischen Regeln, die Kindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen erfahrungsgemäß die größten Schwierigkeiten bereiten. Dazu gehören bei Kindern, die die deutsche Sprache erwerben
- auf syntaktische Ebene die Verbstellungsregeln (Verbzweitstellungsregel im Hauptsatz, Verbendstellungsregel im subordinierten Nebensatz) und
- auf morphologischer Ebene die Kasusregeln, die Subjekt-Verb-Kontroll-Regel sowie Genus und Plural.
- Schaffung obligatorischer Kontexte: Um eine valide Aussage über den Erwerbsstand auf syntaktisch-morphologischer Ebene treffen zu können, muss das diagnostische Verfahren Kommunikationssituationen schaffen, die das Kind aus pragmatischer Perspektive zwingen, die oben genannten Strukturen spontansprachlich anzuwenden.
- Ökologische Validierung: Die Daten zum grammatischen Entwicklungsstand eines Kindes sollen in möglichst natürlichen, kommunikativ-interaktionalen Kontexten gewonnen werden
Überprüfungen des grammatischen Entwicklungsstandes sind Bestandteil zahlreicher Sprachtests. Dazu gehören im deutschsprachigen Raum (ohne Anspruch auf Vollständigkeit)
- die Patholinguistische Diagnostik (Kauschke/Siegmüller 2010)
- MUSE-Pro (Berg 2015)
- SET 5-10 (Petermann et al. 2012)
- Screening grammatischer Fähigkeiten für die zweite Klasse (SGF 2, Mahlau 2016)
- IDIS - Inventar diagnostischer Informationen bei Sprachentwicklungsauffälligkeiten (Schöler, 1999)
Das qualitativ hochwertigste und differenzierteste normierte Verfahren für den deutschsprachigen Raum, das die syntaktisch-morphologischen Fähigkeiten von Kindern zwischen vier und acht Jahren erfasst, ist ESGRAF 4-8 von Motsch & Rietz (2017).
Dabei handelt es sich um ein spieldiagnostisches Testverfahren, das in sechs Subtests die zentralen grammatischen Strukturen des Deutschen in spielerischen Kontexten rund um das Thema Zirkus evoziert. Nach der Erstauflage der ESGRAF-Familie 1999 und einer vollständig überarbeiteten und veränderten Version ESGRAF-R (2009), wurde das Verfahren im Rahmen eines multizentrischen Forschungsprojekts standardisiert und auf der Grundlage der Daten von knapp 800 Kindern aus NRW, Niedersachsen und Baden-Württemberg normiert.
Im Rahmen des Forschungsprojekts „Förderbedarf Sprache bei Schülerinnen und Schülern an Sonderpädagogischen Förderzentren“ (s. https://www.edu.lmu.de/shp/forschung/forschung/foerderbedarf/index.html) wurde ESGRAF 4-8 mit 100 Schülerinnen und Schülern aus ersten Klassen an Sonderpädagogischen Förderzentren in und um München durchgeführt. Insbesondere bei Kindern mit kognitiven Einschränkungen sowie sprachlichen Einschränkungen in der Folge eines Migrationshintergrunds gestaltete sich die Durchführung des Testverfahrens in standardisierter Form im Rahmen des Projekts als problematisch.
Es waren insbesondere folgende Aspekte, die auf der Grundlage der Erfahrungen im genannten Forschungsprojekt kritisch reflektiert werden wurden:
- Einige Handlungssequenzen (z.B. Zaubertrick) waren insbesondere für kognitiv beeinträchtigte Kinder inhaltlich zu komplex
- Bei einigen Spielsituationen waren die intendierten Äußerungen bei Kindern nur schwer zu evozieren (z.B. Objekttopikalisierung: „Bananen mag ich, Fleisch mag ich nicht.“)
- Einige der im Manual vorgesehenen Tipps zur Evozierung der Zielstruktur schienen insbesondere Kinder mit kognitiven und metasprachlichen Defiziten eher zu verwirren als eine Hilfestellung darzustellen.
- Einige Situationen waren nicht obligatorisch genug, um die intendierte Zielstruktur zu evozieren.
- Genus, Kasus und Plural werden mit einem Wortschatz überprüft, über den insbesondere Kinder mit Migrationshintergrund teilweise nicht verfügen (z.B. Körner, Vorhang, Holz, Gans, Nuss)
Diese Erfahrungen mit der Durchführung der ESGRAF 4-8 im genannten Forschungsprojekt waren die Motivation, ein Verfahren zu entwickeln, das sich die Vorzüge der ESGRAF 4-8 Diagnostik zu Nutze macht und die genannten Schwierigkeiten zu eliminieren versucht.
2. Versteckspiele mit Leo und Annika
Bei den Versteckspielen mit Leo und Annika handelt es sich um einen spielerischen Dialog zwischen dem Kind, der Testleiterin und den beiden Handpuppen Leo und Annika, der sich inhaltlich eng an den Spielsituationen aus ESGRAF 4-8 anlehnt. In insgesamt acht Subtests, die etwa 45 Minuten in Anspruch nehmen, werden die oben benannten syntaktisch-morphologischen Strukturen des Deutschen überprüft.
Als Material werden lediglich drei Handpuppen und Bildkarten benötigt. Die Bilder wurden so ausgewählt, dass die drei Genera des Deutschen mit jeweils mindestens einem Beispiel für die unterschiedlichen Pluralmorpheme vertreten sind, und sie einem Wortschatz entsprechen, der auch Kindern mit sprachlichen Einschränkungen vertraut sein sollte.
Subtest 1: Überprüfung der Verbzweitstellung im Hauptsatz und der Subjekt-Verb-Kontroll-Regel (in Anlehnung an das Tierratespiel aus ESGRAF 4-8). Das Kind stellt den beiden Handpuppen Fragen, um sie besser kennen zu lernen. Auf diese Weise werden Fragesätze mit einem W-Pronomen in der Erstposition und einem finiten Verb in der 2. Person Singular evoziert (n=16). Die Fragen werden vom Testleiter in Form eines indirekten Fragesatzes mit Verbendstellung und dem Verb in der dritten Person vorgegeben.
Beispiele:
Subtest 2: Überprüfung der Verbendstellungsregel in subordinierten Nebensätzen
Die Verbendstellung wird u.a. dadurch überprüft, indem Annika und Leo dem Testkind Fragen stellen, die dieses beantworten soll. Dabei handelt es sich um Alternativfragen, die jeweils aus einem subordinierten Nebensatz bestehen (n=14).
Subtest 3: Überprüfung der Verbzweitstellung, der Subjekt-Verb-Kontroll-Regel und der korrekten Markierung des Akkusativs. Zu diesem Zweck werden die 15 Bilder in die Mitte gelegt. Das Kind darf in einem ersten Schritt die Bilder an sich, Leo und Annika verteilen. Evoziert werden Äußerungen mit einem Akkusativobjekt an erster Stelle (Objekttopikalisierung) und einem finiten Verb (in der ersten oder dritten Person Singular): „Den Teddy bekomme ich, das Auto bekommt Leo, die Banane bekommt Annika.“ (n=15)
Subtest 4: Überprüfung der Genussicherheit: Alle Bilder liegen mit dem Bild nach oben in der Mitte des Tischs. Während das Kind die Augen schließt, dreht die Testleiterin eines der Bilder um und fragt: „Welches Bild ist weg? Welches Bild ist verschwunden?“ Auf diese Weise werden Nominalphrasen im Nominativ evoziert (n=15).
Subtest 5: Dativ in einer Präpositionalphrase: Von der Handpuppe Leo wird die Bildkarte eines Dinos unter einem der Bilder versteckt und die Frage gestellt: „Wo ist der Dino? Wo liegt der Dino?“Evoziert werden auf diese Weise Präpositionalphrasen wie „unter dem Ball“, unter dem Schuh, unter der Banane“ (n=15).
Subtest 6: Dativ in der Nominalphrase: Die Bilder werden an verschiedene Personen (Mann, Frau, Mädchen, Oma, Baby) verschenkt. Mit Hilfe der Frage „Wem soll ich … geben?“ werden Nominalphrasen mit Dativ („dem Mann“, „der Frau“, „dem Mädchen“ etc.) evoziert (n=15).
Subtest 7: Plural: Die Feststellung der Pluralsicherheit findet mit Hilfe eines Dialogs zwischen den beiden Handpuppen statt. Annika nimmt sich jeweils eines der Bilder und erzählt, dass sie ein „…“ bekommen hat, worauf „Leo als Angeber“ stets antwortet, dass er viel mehr „…“. Zum Einsatz kommen neun Nomen mit unterschiedlichen Pluralmarkierungen.
Subtest 8: Präpositionalphrase mit Akkusativ: Am Ende des Tests werden die Bilder aufgeräumt. Dafür stehen vier Orte zur Verfügung: das Regal, die Kiste, der Schrank und der Korb: Nach einer vorgegebenen Regel werden die Sachen eingeräumt. Die Fragen des Testleiters „wohin kommt der/die/das …?“ evozieren eine Präpositionalphrase mit Akkusativ (n=15).
Insgesamt können auf diese Weise bei den Versteckspielen mit Leo und Annika
- 31 Äußerungen hinsichtlich der Verbzweitstellung in Hauptsätzen (mit W-Fragen, Objekten in der Erstposition)
- 31 Äußerungen hinsichtlich der Subjekt-Verb-Kontroll-Regel (1., 2., 3. Person Sg.)
- 14 Äußerungen hinsichtlich der Verbendstellung in subordinierten Nebensätzen
- 15 Äußerungen hinsichtlich der Genussicherheit
- 9 Äußerungen hinsichtlich der Pluralsicherheit
- 30 Äußerungen hinsichtlich der korrekten Akkusativmarkierung
- 30 Äußerungen hinsichtlich der korrekten Dativmarkierung analysiert werden.
3. Methode
Das Verfahren wurde vom Projektverantwortlichen entwickelt und im Rahmen eines Forschungsseminars im WiSe 2020/21 Studierenden der Sprachheilpädagogik vorgestellt.
Auf der Grundlage der Erprobung der Testdurchführung durch die Studierenden wurden im Seminar Vor- und Nachteile sowie Möglichkeiten der Optimierung des Verfahrens diskutiert.
Im Januar 2021 stand das Verfahren in einer finalen Pilotversion zur Verfügung.
Aufgrund der coronabedingten Einschränkungen verzögerten sich die nächsten Schritte des Forschungsprozesses.
- Bis Ende des Schuljahres 2020/21 wird das Verfahren von den Studierenden mit insgesamt etwa 70-80 sprachlich unauffällig und sprachlich beeinträchtigten Kindern zwischen dem letzten Vorschuljahr und der zweiten Klasse erprobt.
- Bis Ende des Kalenderjahres wird das Verfahren auf der Grundlage der Ergebnisse dieser Pilotphase weiter optimiert. Eine teststatistische Aufbereitung der erhobenen Daten soll Aufschluss über Trennschärfen der einzelnen Items, Schwierigkeitsgraden und die Reliabilität sowie die diskriminative Validität des Verfahrens liefern.
- Die Normierung des Verfahrens ist für das Jahr 2022 geplant
Literatur
- Motsch, H.J. (2017). Kontextoptimierung. Evidenzbasierte Intervention bei grammatischen Störungen in Therapie und Unterricht. (4. Aufl.). München: Reinhardt.
- Motsch, H.J., Rietz, Ch. (2017). ESGRAF 4-8. Grammatiktest für 4-8-jährige Kinder. München: Reinhardt
- Berg, M. (2015): MuSE-Pro. Überprüfung grammatischer Fähigkeiten bei 5- bis 8-jährigen Kindern. München: Reinhardt
- Kauschke, C., Siegmüller, J. (2010): Patholinguistische Diagnostik bei Sprachentwicklungsstörungen. 2. Aufl. München: Urban & Fischer
- Mahlau, K. (2016): Screening grammatischer Fähigkeiten für die 2. Klasse (SGF 2). München: Reinhardt
- Petermann, F. (2012): Sprachstandserhebungstest für Kinder im Alter zwischen 5 und 10 Jahren (SET 5 – 10). 2. überarb. Aufl. Göttingen: Hogrefe